Der Fall D. - Eine Stalkerin packt aus
schlicht und ergreifend schlecht. Ich war schlecht, wenn
ich wütend war und ich hatte Unrecht, wenn ich wütend war. „Wer schreit, hat
Unrecht!“ Diese Worte meiner Mutter klingen mir heute noch in den Ohren.
Die
Wut, die wir vorgelebt bekamen, war tatsächlich schlecht. Und deshalb habe ich
bis vor kurzem nicht verstanden, das es eine konstruktive Wut gibt, die,
richtig gesteuert und gelenkt, sogar gesund ist. Runtergeschluckte Wut macht
krank. Und ich habe geschluckt. Ich habe es fertig gebracht, mir meine Wut bis
zu meinem 16. Lebensjahr abzugewöhnen. Ich habe sogar verlernt, sie zu
empfinden. Ich wollte nie so schlecht sein wie mein Vater ...
Wenn
ich doch mal die leiseste Empfindung von Wut in mir spürte, war sie stets mit
einem unsagbar schlechten Gewissen gekoppelt. Selbst dann, wenn ich nach außen
hin oft lautstark auf mein Recht pochte, so war ich tief in mir von meiner
eigenen Unglaubwürdigkeit überzeugt. Ich lernte nie, mich ernst zu nehmen, denn
die anderen taten es schließlich auch nicht. Nach und nach ließ ich unbewusst
dieses so wichtige Gefühl der Wut in mir nicht mehr zu. Ich dachte, ich wäre
ein besserer Mensch, den man nun endlich ernst nehmen kann.
Meine
Wut suchte sich Wege. Sie wollte nicht sterben. Sie war wichtig für mich und
deshalb kämpfte sie sich durch. Da ich sie nicht nach außen leben durfte,
richtete ich sie sich gegen mich selbst.
Einmal
ließ ich allerdings meine Wut am Pferd meiner Freundin aus. Ich war damals
ungefähr 10 Jahre alt. Ich schlug in der Box minutenlang mit voller Wucht mit einer
Reitgerte auf das Tier ein. Es gab keinen Grund, ich tat es einfach. Mechanisch,
wie ferngesteuert. Es überkam mich und ich hätte das arme Tier wohl noch weiter
misshandelt, wenn nicht zufällig jemand in den Pferdestall gekommen wäre.
Danach
fühlte ich mich innerlich leer und unsagbar traurig, fast wie tot. Ich liebte
Tiere doch so sehr und ich konnte das, was ich da getan hatte, selber nicht
verstehen.
Ich
habe nie gelernt meine Grenzen abzustecken und zu sagen: „Stopp, bis hier hin
und nicht weiter. Hier fängt die Linie an, die ich nicht übertreten haben will.
Das bin ich. So bin ich!“ Das wäre mit Wut und Gefühlen verbunden gewesen und
das wurde grundsätzlich mit emotionaler Folter bestraft. So konnte ich mich
nicht kennen lernen. Also fing ich an, mich und meine Gefühle zu ignorieren.
Aber
zu Hause gab es keine gesunden Grenzen. Meine Mutter überrollte meine Gefühle
ständig und nahm das, was ich sagte, niemals ernst. Egal, um was es sich auch
handelte, es wurde alles mit einem „Ja, aber ...“ oder „So, wie du das sagst,
kann das doch nicht gewesen sein“ abgecancelt. Darunter stand alles für: „Stell
dich nicht so an, es liegt schließlich an dir, das dieses und das und jenes so
ist ... Du bist doch selber schuld!“
Sie
fand immer einen Grund, der mich zur Schuldigen machte. Heute weiß ich, sie hat
mich nie als eigenständige Person zugelassen. Ich durfte mich nicht entwickeln.
Ich durfte nicht gesund wütend sein und bin damit zum „Gefühlskrüppel“ gemacht
worden.
Meine
Mutter wusste allerdings ganz genau, was ich nicht sein durfte, nämlich so werden
wie mein Vater.
Erst
heute, mit mittlerweile 40 Jahren, sehe ich die Dinge Stück für Stück immer
klarer. Ich kann bis heute noch keine Wut empfinden, aber ich werde es in der
stationären Therapie, zu der ich mich angemeldet habe, lernen.
Die
seelischen Wunden, die ich durch diese emotionalen Misshandlungen davon
getragen habe, gebaren unter anderem eine Borderline Störung. Diese Krankheit
wird medizinisch wie folgt definiert:
· Unbeständige
und unangemessene intensive zwischenmenschliche Beziehungen
· Impulsivität
bei potenziell selbstzerrstörerischen Verhaltensweisen
· Starke
Stimmungsschwankungen
· Häufige
und unangemessene Zornausbrüche
· Selbstverletzung
und Suiziddrohungen oder -versuche
· Fehlen
eines klaren Ichidentitätsgefühls
· Chronische
Gefühle von Leere und Langeweile
· Verzweifelte
Bemühungen, die reale oder eingebildete Angst vor dem Verlassenwerden zu
verhindern
· Stressabhängige
paranoide Fantasien
·
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