Der Fall D. - Eine Stalkerin packt aus
Zeltlager
aufräumen. „Du bist schon eine tolle Klassensprecherin!“ Mit diesen Worten ließ
er mich nach Verkündigung der Strafe stehen. Ich war schon lange keine
Klassensprecherin mehr. Innerlich hatte ich dieses Amt längst abgelegt. Ich war
einfach zu unfähig.
Auf
der Heimfahrt wurde ich von ihm zur Strafe auf den engen Notsitz im Bus
degradiert. Es zog wie Hechtsuppe und mir tat alles weh. Ich hatte meine Tage
bekommen und, wie jeden Monat, unerträgliche Unterleibsschmerzen. Ich fror und
zitterte am ganzen Körper. Ich konnte für Stunden meine Binde nicht wechseln
und hatte Angst, dass ich den ganzen Sitz voll blute. Irgendwann habe ich es
vor Schmerzen nicht mehr ausgehalten. So eingeengt konnte ich nicht mehr
sitzen. Ich schlich mich nach hinten und setzte mich auf einen Koffer, der im
Gang stand. Dort war es wärmer und ich konnte mich ausstrecken.
„Was
machst du denn da? Aber ganz schnell wieder auf deinen Platz!“
Ich
zog den Kopf ein, kroch auf den Notsitz und den Rest der Fahrt dachte ich, ich
müsste sterben. Vor Schmerzen. Die in meinem Bauch und in meiner Seele. Ich
habe mich nicht getraut, nur noch ein einziges Wort zu sagen.
Zu
Hause hatte ich danach meine erste akute Unterleibsentzündung. Die erste von
unzähligen bis zu meiner Totaloperation mit vierzig Jahren.
Geredet
habe ich allerdings nicht darüber. Wie es mir dort hinten auf dem Notsitz ergangen
ist, habe ich jahrelang verschwiegen.
Irgendwann
im frühen Teenageralter fing ich an, mich auf übelste Weise selbst zu
verletzen. Am meisten in Mitleidenschaft gezogen waren meine Hände und Finger.
Die kleinste Wunde, z B. durch einen Mückenstich entstanden, wurde bis tief ins
Fleisch hinein aufgepult. Immer und immer wieder. Auch meine Beine waren durch
diese Kratzerei völlig verunstaltet. Und hatte sich eine Kruste gebildet, riss
ich sie wieder auf. Doch meine Finger litten am meisten. Der kleinste Fitzel
Nagelhaut war für mich ein Anlass daran zu ziehen und zu reißen, bis ich
blutete. Meine Finger, die Daumen allerdings ausgespart, da ich sie zum Nuckeln
brauchte, waren so über Jahre vom Nagelbett komplett über die gesamte erste
Fingerkuppe aufgerissen und verkrustet.
Es
war wie eine Sucht. Es tat furchtbar weh, aber ich konnte es einfach nicht
lassen. Obwohl es brannte wie Feuer, kam ich nur für eine gewisse Zeit
innerlich zur Ruhe, wenn es blutete und ich alle Hautfetzen abgerissen hatte.
Erst dann war ich für eine kurze Weile zufrieden. Zu dieser Zeit war ich mit
einem Mädchen namens Anette befreundet. Ich war mittlerweile vierzehn und wir
trafen uns oft heimlich in einer recht verrufenen Kneipe nahe unserem Wohngebiet.
Die Clique ihres Bruders war auch oft dort, um Karten zu spielen. Eins dieser
Spiele nannte sich „Ratschen“. Es war recht simpel zu spielen. Am Ende des
Spiels durfte sich der Verlierer eine Karte ausdenken. Es wurde dann so lange
eine Karte nach der anderen von Stapel gezogen, bis die besagte Karte kam. Und
so viele Karten vorher gezogen wurden, so oft wurde man anschließend mit Nieten
auf der Handoberfläche geratscht.
Ich
verlor oft, sehr oft … Meine Hände waren derart verkrustet, dass ich zu Hause
Rede und Antwort stehen musste. Ich log, dass sich die Balken bogen, und stahl
mich immer und immer wieder in diese Kneipe, um mitzuspielen. Anfangs wurde ich
noch beschummelt und die älteren Jungs machten sich einen Spaß draus, eine Dumme
gefunden zu haben. Aber es dauerte nicht lange man ignorierte mich und grenzte
mich vom Spielen aus. Ich buhlte um Anerkennung und Beachtung, hätte dafür
alles in Kauf genommen, nur um dabei zu sein.
Mein
Vater hatte für mich nur zwei gute Eigenschaften: Er baute mir zu Weihnachten
einen wunderschönen Puppen-Kleiderschrank und er war Jude.
Es
gibt in meiner Erinnerung nichts, was ich mit meinem Vater an positivem Erleben
verbinden kann. Noch kurz vor seinem Tod traktierte und quälte er mich und ich verabschiedete
mich von ihm bereits drei Wochen, bevor er starb, von ihm und sah ihn nie
wieder. Ich wollte es auch nicht. Als mein Bruder Kevin mich anrief und mich
fast anflehte zu kommen, als mein Vater auf seinem Totenbett lag (er kam mit
dieser Situation nicht alleine klar), habe ich mich geweigert, hinzugehen. Das verübelt
er mir bis heute, obwohl er nie wieder einen Ton darüber fallen gelassen hat.
Aber ich weiß es genau!
Ich
trug es immer in mir und es hat sich bis heute nicht geändert. Ich sehe mich
als Jüdin, obwohl ich evangelisch
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