Der Fall der Feste
Ihr habt das zu Ende geführt, was Jag und schließlich ich, als Kudai mich auf dem Weg nach hier erneut angriff, nicht geschafft haben. Ihr habt seinen Homunkuluskörper endgültig zerstört.“
Er blickte die Reihen der Ninraé entlang, die heute, am letzten Tag seiner Erzählung zu ihm gekommen waren, bleiche, nicht wirklich menschliche Gesichter, zu klar, zu ausgearbeitet im Detail, um wirklich in eine Umgebung zu passen, wo Menschen, wie er sie in seinem anderen Leben gekannt hatte, miteinander umgingen, und doch inzwischen auf eine merkwürdige, neue Art vertraut. Alle, die ihn damals auf dem Plateau gefunden hatten, waren anwesend. Diejenigen jedenfalls, welche überlebt hatten. Und noch einige andere waren da, wie Nadragír und Sekainen. Einige hatte er sogar ausdrücklich hinzugebeten, so wie etwas Bruc, Cedrach und Nadragír, da er glaubte, dass sie das, was er heute zu erzählen gehabt hatte, etwas anging und sie interessieren würde. Er hatte tatsächlich gelernt, sich in ihrer Gesellschaft wohl zu fühlen. „Elfen“ hätten sie die meisten seiner alten Kameraden genannt. Oder Spitzohren.
Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Kudai saß auf einem Wurzelstrunk, zog sich seine lehmverbackenen Stiefel aus und grinste ihn an. „Es ist immer das gleiche“, sagte er. „Hast du Scheiße an den Stiefeln, hast du Scheiße an den Stiefeln.“ Der Krieg in Kvay-Nan war furchtbar gewesen, sie alle waren mit Narben und Alpträumen daraus hervorgegangen. Aber es war eine gute Zeit für ihre Freundschaft zueinander gewesen. Denn gute Zeiten hatten sie miteinander gehabt. Umso schlimmer war für ihn, was nun da unten in den Kammern der Physis aufgebahrt lag.
„Kudais Seele, seine Persönlichkeit.“ Er blickte die Gesichter entlang, doch er nahm sie nur undeutlich wahr. „Sie steckt irgendwie in diesem Körper. In dieser Lichtkugel in seiner Brust. Was ist mit ihm, da der Homunkuluskörper nicht mehr lebt?“ Er sah Nadragír an, ließ seinen Blick dann zu Darachel hinüber gleiten. „Lebt er, kann sich nur nicht rühren? Spürt er etwas?“
Nadragír und Darachel wechselten Blicke miteinander.
„Ich glaube nicht, dass er etwas spürt“, antwortete schließlich Darachel. „Sein Geist ist wahrscheinlich zwar noch immer an diesen Seelenstein gebunden, aber es steht zu vermuten, dass er, um ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln, dafür einen Körper, ein Sensorium braucht. Ohne das hat er nichts, was ihm die Welt und seine eigene Existenz spiegelt.“
Auric dachte an das seltsame Schattenreich, durch das er halbtot getrieben war, als er auf dem Pferderücken fort von der Kinphaurenfestung floh. In Richtung Himmelsriff, ohne dass er das zu diesem Zeitpunkt schon wusste. Er erinnerte sich an die von Bildern der Vergangenheit und anderen Spukgestalten erfüllte Dunkelheit, durch die er geschwebt war, bevor er hier in Himmelsriff wieder zum Bewusstsein erwachte.
„Träumt er?“, fragte Auric, niemanden von ihnen im Besonderen.
„Er träumt“, kam die Stimme von Darachel zur Antwort. „So wie wir alle träumen, wenn uns zum Fühlen und Denken kein Körper zur Verfügung steht.“ Als Auric zu ihm hinblickte, sah er, das auch Darachels Blick ins Leere ging, so als dächte er, angeregt durch Aurics Frage, zum ersten Mal über dieses Thema nach. „Was das für Träume sind? Wer kann das schon sagen? Ob die Träume der Nacht, wo die Erinnerungen des Körpers uns noch in ihren Netzen halten oder die Träume des Todes.“
„Ich glaube, ich möchte ihn begraben.“ Er sprach es plötzlich aus, und die Einsicht, die aus diesen Worten sprach, überraschte ihn. Ja, das war es. Er wollte von Kudai Abschied nehmen. Von den guten Zeiten, die sie miteinander verbracht hatten, von einem Feind. Von dem Groll und dem Hass der am Ende zwischen ihnen war, und von der Schändung, die seinem Freund und Feind widerfahren war.
Darachels Augen verengten sich und eine Steilfalte bildete sich zwischen seinen Brauen. Er sah zu ihm hinüber, als denke er über die ganze Angelegenheit nach. „Wir werden dazu einen Weg finden“, sagte er.
Er beließ es für den Moment dabei.
„Was mich“, sagte er, „seit einiger Zeit beschäftigt: Wie kann das, was Kudai war, in diese Lichtkugel geraten sein?“ Er rief in sich die Erinnerungen an Jags Gesicht, an seine Erzählungen aus seiner Zeit im Saikranon herauf. „Ich weiß inzwischen, dass die Kinphauren die Möglichkeit haben, ein Leben, das an einen dieser Seelensteine
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