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Der Fall der Feste

Der Fall der Feste

Titel: Der Fall der Feste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horus W. Odenthal
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Zeichen, auf die Darachel ihn hingewiesen hatte, was er ihm als ihren Gebärdendiskurs erklärt hatte, der das äußere Zeichen des Austauschs ihrer Selbstschichten sei. Es schien ihm schon wie beim ersten Mal als er es sah, als ihre Gemeinschaft zum ersten Mal um sein Bett herum gestanden hatte, als ginge ein Wind durch einen Hain schlanker Bäume.
    „Um was geht es eigentlich genau bei diesem so besonderen Ereignis, dieser Weihe?“, fragte er in die Runde.
    „Es geht um die Physis, zum ersten Mal um die Physis“, erklärte Siganche. „Schließlich bedeutet das Aufsteigen in die geistige Welt eine Verwandlung.“
    „Und die muss den Körper einbeziehen“, warf Nadragír ein. „ Bogenfall des Lichts ist ein Weiser unter denen seiner Art.“
    „Ist es dann nicht …“, –Auric glaubte Darachel ansehen zu können, dass ihm zunächst ‚gefährlich‘ auf der Zunge lag – „ein sehr bedeutungsvoller Schritt daran teilzunehmen? Wird damit nicht eine Entscheidung getroffen?“
    „ Bogenfall des Lichts sagte mir, man nehme damit keinen Schritt in eine unumkehrbare Richtung“, sagte Bruc. „Es sei ein Vorgang, der jeder Individualität in ihrem Fortschreiten dient, ganz egal, welchen Entwicklungsweg sie danach einschlägt. Ihm schien sehr daran zu liegen, uns dabei zu wissen und nicht aus der Gemeinschaft ausgegrenzt zu sehen.“
    „Es scheint, Bogenfall des Lichts ist unser Fürsprecher gegenüber den Enthravanen geworden.“
    „So wie ich gehört habe“, bemerkte Nadragír, „hat es mit der Aufnahme einer physischen Substanz zu tun. Es geht um eine Stufe des Gewahrwerdens der Körperlichkeit, um einen bedeutenden Schritt in der geistigen Entwicklung zu nehmen. Eine Schwelle zu überschreiten.“ Ein feines Grinsen umspielte seine Züge. „Es besteht eine direkte Verbindung zwischen Physis und den höheren geistigen Ebenen. Die Physis ist verknüpft mit den höchsten Geheimnissen der Verwandlung.“
    „Das hast du immer schon gesagt“, Darachel legte Nadragír die Hand auf die Schulter und wandte sich wie zum Gehen um.
    „Er wird nicht teilnehmen, das ist sicher“, sagte Cedrach ihm nachblickend.
    „Wahrscheinlich steht für ihn das Verdikt schon fest.“ Bruc hatte gesprochen, und alle blickten zu ihm hin. „Er hat sein Urteil über die Enthravanen schon gesprochen.“

    Auric sah zu Darachel hinüber, der sich zwei Meter von ihm entfernt genau wie er im Schneidersitz auf ein Kissen gehockt hatte. Das Gesicht des Ninra war in tiefer Konzentration versunken; er saß vollkommen regungslos.
    Es war einer seiner wiederholten Versuche, eine Konklavbindung zwischen ihnen herzustellen, ohne dass ein Patenwesen ihm dabei zu Hilfe kam. Bei den vorherigen Versuchen hatte Auric einige Male ein Flackern gespürt, aber eine Verbindung wie er sie beim Begräbnis Kudais mit den anderen Ninraé gehabt hatte, eine stabile Konklavsphäre, wie Darachel das nannte, war nicht zustande gekommen.
    Aurics Blick schweifte zu dem beinah wolkenlosen, klaren Frühlingshimmel hin, der durch die hohen zur Ebene hin gewandten Fenster zu sehen war.
    Frühling! Nach den ersten neckenden und narrenden Vorboten einer wärmeren Jahreszeit und erneutem Rückdrängen eines Winters, der seine Ansprüche nicht aufgeben wollte, war nun endlich der Frühling eingekehrt. Frühling. Das hieß, dass er sich nun bereits ein Dreivierteljahr in Himmelsriff aufhielt. Unglaublich, dass einerseits die Zeit so verflogen war, es sich andererseits aber anfühlte wie ein ganzes Leben.
    Wie sehr ihm diese unbegreifliche Fremdartigkeit vertraut geworden war. Wie sehr er gelernt hatte, eine Umgebung, die er mit seinen Sinnen nicht wirklich begreifen konnte, als eine Normalität aufzufassen. Wie sehr die Flucht dieser Räume, die gerade Linienführung, die fremdartigen Friese, der Ausblick auf die hohen Fenster und die Ebenen des Zwielichtlandes dahinter ihm zu einer Heimat geworden waren.
    Er stutzte.
    Die Vertrautheit des Ausblickes verschob sich zu einem Gefühl der Irritation.
    Ein Schwanken, eine Doppelbödigkeit der Wirklichkeit, so als sehe er zwei Perspektiven, so als stehe er hier und dort zugleich.
    „Fühlst du es?“
    Es war Darachels Stimme, aber er hörte sie nicht durch seine Ohren.
    Er hörte sie aus dem Raum einer Konklavsphäre heraus.
    „Du hast es geschafft?“ Er richtete seine Gedanken wie die Worte eines an jemanden gerichteten formulierten Satzes in die Konklavsphäre hinein, genauso wie Bogenfall des Lichts es ihn gelehrt

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