Der Fall des Lemming
Kleider drin und ein Abschiedsbrief … dass er jenseits des Styx auf die Mördersau warten wird, dass er Grinzingers Zerberus sein wird und so weiter … Ist damals in der Zeitung gestanden …»
«Und der Breitner?»
«Ist nimmer gekommen … abgemeldet, Schule gewechselt, was weiß ich …»
«Breidna?» Steinhauser versucht, vom Boden hochzukommen, sinkt zurück, setzt die Flasche an, trinkt, gestikuliert.
«Breidna? Suber Schweser g’habt, da Breidna! Sauweres Mädel … süse kleine Glara …»
«Süße, ach süße kleine Klara», flötet Sedlak, «Slibo, Wäudl, gib den Slibo her …»
Aber Steinhauser rührt sich nicht. Scheint bereits mit der Erde verwachsen zu sein. Nur ein Seufzen kann man hören, ein leises Schluchzen aus seiner Richtung, das von den mondlichtbeschienenen Wänden zurückgeworfen wird. Und so wankt Sedlak zu seinem ehemaligen Schulkollegen, entwindet ihm die Flasche und streckt sie dem Lemming hin.
«Der Rest», brummt er, «ist schnell erzählt. Der Serner hat sich aufg’hängt, aus schlechtem Gewissen. Weil er den Anlass für die ganze Tragödie geliefert hat, weil das in Wirklichkeit er g’wesen is mit der Buttersäure. Der Kropil hat sich sein Sprachf-f-fehler zug’legt. Und der Grinzinger hat bis zur Matura nur noch Dienst nach Vorschrift g’macht. Steif. Schweigsam. Keine Grausamkeiten mehr, keine Zynismen, keine Peitsche und kein Zuckerbrot, nicht einmal für den Streber-Söhnlein. Er hat fast … beleidigt gewirkt … oder angewidert …»
Sedlak nimmt dem Lemming die Flasche aus den Händen, setzt an und leert sie in einem Zug.
«Schau ihn an», flüstert er und deutet auf den kleinen, dunklen Umriss Steinhausers. «Schau ihn an, und dann sag mir: Wer hat das Recht? Wer hat das Recht dazu? Irgendwann waren wir Kinder, verstehst, Wallisch, schwirrende, neugierige, lebenshungrige, freche, ideensprühende Kinder. Wir haben keine Hoffnung g’habt – wir waren die Hoffnung selber, jede Faser von uns … Wer hat das Recht, Wallisch? Wer hat das Recht, das zu zerstören? Sag’s mir, Wallisch! Wer?»
«Wo war … wo war euer Klassenzimmer …?»
«Wieso denn … dort oben, die Fensterreihe im zweiten Stock …»
«Gib den Slibo …»
«Is leer …»
«Gib schon.»
Der Lemming wirft. In hohem Bogen fliegt die Flasche durch die Luft und zersplittert an der Mauer des Schebesta-Gymnasiums.
«Falscher Winkel … gib die andere …»
Beim zweiten Mal klappt es. Mit ohrenbetäubendem Klirren birst eines der Fenster, und als der letzte Glassplitter nach außen bricht und mit glöckchenhellem Klang auf dem Beton zerspringt, hebt Steinhauser den Kopf.
«Regnet …», meint er lächelnd.
14
Orangenduft lag über Israel. Ein warmer Wind trug ihn von den Hainen her über das Land, trieb ihn durch Städte und Dörfer und weit in die Wüste hinein. Janni streckte den Kopf aus dem Wagenfenster und zog tief die Luft in seine Lungen.
Es war der Sommer 1987, vorerst der letzte gute Sommer für Touristen. Kaum ein halbes Jahr später würde die Intifada beginnen, der Aufstand der Palästinenser, und würde sich von Gaza und dem Westjordanland wie ein Lauffeuer ausbreiten. Geballte Fäuste, geworfene Steine, Kampfgebrüll, ein Schuss, eine Bombe, ein Blutbad in der Menge, dann Granaten, Panzer, Krieg. Einmal mehr würde die Gewalt noch mehr Gewalt gebären. Einmal mehr würden aus geschlagenen Kindern schlagende Eltern werden, um den Hass zu vermehren, zu pflegen und weiterzugeben wie einen Schatz, der die Generationen wach und lebendig erhält.
Frühmorgens war die Bonita in Haifa eingelaufen, der Stadt mit dem größten Hafen Israels, am Fuße des Karmelgebirges. Sie sollte hier einige Zeit vor Anker liegen; es galt, die Fracht zu löschen, das Schiff neu zu beladen und Treibstoff zu bunkern. Außerdem wollte der Kapitän einen Doktor aufsuchen, wie er sagte. Doch er wirkte rundum gesund, und es ging das Gerücht, bei dem Doktor handle es sich weniger um einen Arzt als vielmehr um einen jungen Friseur. Wie auch immer, Janni bat um Urlaub, und er erhielt gerade drei Tage; genug, um Palästina zu durchqueren, zu wenig, um es zu erkunden. Aber es gab eine Stelle im Süden, zu der es ihn vor allen anderen zog, einen von Hunderten magischen Orten in einem magischen Land. Es war eine Stelle, deren Geschichte Janni anrührte und beschäftigte, seit er das erste Mal darüber gelesen hatte.
Zunächst brach er mit dem Bus nach Tel Aviv auf. Und kaum zwei Stunden
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