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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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den Rest gegeben, aus Rache für Grinzingers Sadismus.»
    «In der ersten Klasse waren wir sechsunddreißig, am Ende, bei der Matura, zehn, und davon fünf Quereinsteiger. Rechne dir’s aus, Wallisch. Fünf von sechsunddreißig, nicht mehr als fünf von sechsunddreißig haben durchgehalten, sind von der ersten bis zur achten Klasse gekommen. Und der Rest der fröhlichen Kinderschar? Moriturus …»
    «Manchmal», murmelt Sedlak, «haben wir ihm Zeitungsausschnitte aufs Pult gelegt, irgendwelche Berichte aus Sport oder Politik. Wenn er gut aufgelegt war, hat er angebissen und begonnen, Monologe zum Thema zu halten. Er hat uns selbstgefällig die Welt erklärt, und wir haben hechelnd und speichelleckerisch Interesse markiert. In Wahrheit ist uns sein Sermon am Arsch vorbeigegangen. Wir haben nur die Uhr im Auge behalten und untertänig, ja hündisch versucht, das Gespräch in Gang zu halten. Stufag, Stundenvernichtungs-AG , haben wir’s genannt. Eine Stunde Grinzinger ohne Terror, das war uns all unsere Selbstachtung wert. Wir haben uns erniedrigt und unsere Kollegen verraten, nur um irgendwie zu überleben. Klassengemeinschaft? Dass ich nicht lache … Die Klasse ist in ihre Einzelteile zerfallen und die Einzelteile in ihre Atome. Während der Pausen oder nachher auf der Straße haben wir Dampf abgelassen. Haben uns einen Kleineren oder Schwächeren gesucht, um ihn zu schlagen, zu quälen, zu demütigen. Es war … wie ein Zwang. Anders war es nicht mehr zu ertragen …»
    Sedlak greift zum Zwetschkenschnaps und nimmt einen langen Zug aus der Flasche.
    «Der Neumann war anders», sagt er dann nachdenklich.
    «Der Neumann ist auch erst in der Siebenten zu uns gekommen …»
    «Aber anders. Dafür ist er auch auf Grinzingers Abschussliste gestanden …»
    «Das stimmt. Vom ersten Tag an …»
    «Kannst dich erinnern? Draußen warmer Sonnenschein und drinnen kalter Zynismus: ‹Wir begrüßen einen neuen Schüler in unserer Mitte. Es hat ihm in der siebenten Klasse so gut gefallen, dass er sie wiederholen möchte. Ein wahrer Lateinexperte also. Ihm zu Ehren werden wir heuer unser Arbeitstempo verdoppeln, meine Herren.› Und dann ist uns allen die Luft weggeblieben. Der David ist nämlich aufgestanden und hat gesagt: ‹Ich danke Ihnen, Herr Doktor, für den warmherzigen Empfang. Wann immer Sie meinen Rat brauchen, stehe ich selbstverständlich zu Ihrer Verfügung.› Völliger Wahnsinn. Eine Kamikazeaktion.»
    «Und weiter?»
    «Der Grinzinger ist blass geworden. Und dann hat er beinahe tonlos, ganz ohne Mundwinkel, gemeint: ‹Schön …schön. Dann wollen wir doch gleich damit beginnen. Hefte auf den Tisch. Herr Neumann, darf ich um zehn lateinische Verben bitten …› Er hat uns anderen vom Neumann zehn Verben diktieren lassen, die hatten wir abzuwandeln, binnen zwei Tagen, in allen Formen und Zeiten. Das sind gut dreißig Seiten, eng beschrieben, da fällt dir die Hand ab … Das war der erste Schultag nach dem Sommer siebenundsiebzig.»
    «Scheiße, Sedi …»
    «Ja, Scheiße.»
    Die erste Flasche Slibowitz ist schon fast leer. Steinhauser, Sedlak und der Lemming schaukeln im Gleichklang hin und her, als säßen sie an Deck eines Ausflugsbootes.
    «Scheiße», meint jetzt auch der Lemming.
    «Und so ging’s dann weiter», fährt Sedlak fort. «Es war von allen grausamen Jahren das höllischste. Bis Ende Jänner achtundsiebzig.»
    «Letzte Klassenarbeit vor dem Halbjahreszeugnis …»
    «Wir haben alle Blut geschwitzt … Es hat nur so gedampft vor Angst … und der Neumann …»
    «Es war seine letzte Chance auf ein Genügend. Zweistündige Klausur. Sein oder Nichtsein. Zwei Stunden Kampf ums Bestehen …»
    «Der Grinzinger vorne am Pult, zynisches Grinsen, eine Zeitung in der Hand. Er hat sie nicht gelesen, nur damit geraschelt, immer wieder, unvermittelt, möglichst laut. Irgendwann hat er begonnen, sie zu zerreißen, ganz langsam, Stück für Stück. ‹Konzentration, Herrschaften›, hat er geschnurrt, ‹Konzentration, und Gott und ich, wir sehen alles …› Später, so nach zehn Minuten, ist er aufgestanden und zum Neumann hinübergegangen. Hat sich zu ihm runtergebeugt, an ihm gerochen, seine Stirn, seine Wangen, seine Haare beschnuppert. Und dann hat er lächelnd gesagt:  ‹Du stinkst, mein Freund. Nach Rauch. Geh dir den Mund ausspülen …› Er hat ihn hinausgeschickt, aufs Klo, während der Arbeit, und als der Neumann zurückkam, ging die Schnupperei von vorne los. ‹Du

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