Der Fall des Lemming
später ließ er sich durch den schattigen, menschenbrodelnden Markt unweit des Busbahnhofs treiben, bummelte durch die noble Dizengoff mit ihren ungezählten Juwelierläden und gelangte gegen Mittag auf die Sheinkin inmitten des Studentenviertels. Hier ließ er sich in einem der Straßenlokale nieder, um seinen ersten israelischen Kaffee zu bestellen.
«Filter, Botz or Nes?», fragte der junge Kellner gelangweilt. Und fügte, noch bevor Janni antworten konnte, hinzu: «They all taste like shit.»
«Bring me some … Botz, please.»
Es war die Variante, von der Janni nie zuvor gehört hatte.
Der Kaffee aus der Filtermaschine ist das Maultier unter den Kaffees. Weder besitzt er den Eigensinn eines störrischen anatolischen Esels noch die Rasse einer kräftigen Aveligneserstute. Er ist kein Mokka und kein Espresso, ist stillos, unpoetisch, einfach nur praktisch auf Kosten der Sinnlichkeit. Immerhin: Filterkaffee kann gut schmecken, wenn er nur mit der Hand aufgegossen wird. Man muss das Pulver vorsichtig überbrühen und warten, bis das kochende Wasser durchgelaufen ist; erst dann wird der Filter wieder gefüllt, eine weitere Pause wird eingelegt, und immer so fort. Das entlockt dem Kaffee seine Seele, ohne die bitteren Stoffe zu lösen. Es ist wie in der Freundschaft, in der Liebe: Der stetige Wechsel von Abstand und Zuwendung macht sie lebendig …
Und überhaupt der Nescafé: Er ist das Streichholz unter den Sonnen, das Raumspray im Orchideengarten. Gefriergetrocknetes Aroma? Ein Widerspruch in sich selbst, so ähnlich wie käufliche Liebe . Es heißt, dass weltweit täglich fast dreihundert Millionen Tassen Nescafé getrunken werden, aber: «Je größer der Stiefel, desto größer der Absatz», das hat schon Karl Kraus gesagt. In Israel gibt es zumindest zwei Gründe für die Beliebtheit dieses löslichen Surrogats, und einer davon ist rein semantisch: Das hebräische Wort Nes bedeutet nämlich nichts anderes als Wunder .
Der zweite Grund wurde soeben vor Janni auf den Tisch gestellt. Er hieß: Botz . Einen Löffel fein gemahlenen Kaffee in die Tasse gestreut, dann heißes Wasser darüber geschüttet und kräftig umgerührt, das ist der Botz , auch Schlammkaffee genannt. Eine akkurate Bezeichnung: Gegenüber dem Botz schmeckt jeder Nescafé wundervoll.
«I told you, didn’t I?», rief der Kellner Janni nach, der schnaubend und spuckend das Lokal verließ.
Seine Reise ging weiter, führte ihn nach Jerusalem.
Jerusalem: vibrierender Kraftpunkt, Nabel der geistigen Welt, Stein um Stein geballte Vergangenheit und lebendige Gegenwart, laut, eng und heilig, ein materialisierter Mythos. Yerushalayim – Stadt des Friedens. Seit dreitausend Jahren ein unverstandener Frieden: Jehova, Gott und Allah wohnen in Jerusalem, und ihre Anhänger haben diesen Ort, dieses Juwel, öfter zerstört und in Blut gebadet als alle anderen Städte der Erde.
Janni schob sich durchs Gedränge, wurde fortgeschwemmt und mitgerissen, nahm wie in Trance den Bilderbogen in sich auf; die Grabeskirche, die Via Dolorosa, schließlich die Klagemauer, jenen letzten Rest des zweiten jüdischen Tempels, und darüber, genau auf seinen Fundamenten, die al-Aksa-Moschee und den Felsendom mit seiner mächtigen goldglänzenden Kuppel. Kurz dachte Janni daran, es Tausenden Gläubigen und Urlaubern gleichzutun, an die Klagemauer zu treten und einen Wunschzettel zwischen die riesigen Steinquader zu stecken; aber da wurde ihm klar, dass er keine Wünsche mehr hatte, jedenfalls keine, die der Bedeutung und Größe des Ortes entsprachen.
Er übernachtete in einer Herberge unweit der Knesset und brach am nächsten Morgen auf, um die Stadt gegen Süden hin zu verlassen.
Gelb ist die Erinnerung. Eine staubige Straße durch die judäische Wüste, Sand und Geröll, soweit das Auge reichte, selbst der Himmel trug eine gelbliche Färbung. Der Bus, gefüllt mit schwitzenden Touristen, steuerte rasch und unbeirrt seinem Ziel entgegen, das zugleich das Ziel von Jannis Reise war: jenem sengenden Kessel im Jordangraben, jenem unangefochtenen Tiefpunkt der Welt, in dem schlammig und ölig das Tote Meer ruht. Vierhundert Meter liegt es unter dem Meeresspiegel, und täglich brennt die Sonne mehr Wasser aus ihm heraus, als sein Zufluss im Norden zuzuführen vermag. Der Salzgehalt, zehnmal höher als der der Ozeane, verhindert jegliches Leben in dieser Brühe. Toter kann Wasser nicht sein.
Janni hatte nicht vor zu baden, immer öfter beugte er sich aus dem Fenster,
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