Der Fall des Lemming
Was ist zu tun? Wie geht es weiter? Wer fehlt noch auf der Liste der Verdächtigen? Peter Pribil. Der Würstel-Pribil. Gut, den wird er später zu Hause besuchen. Oder morgen, in der Metzgerei seines Onkels. Viel wichtiger dürfte dieser Breitner sein. Was hat Sedlak gestern noch gesagt? Der Breitner hat’s angeblich miterlebt … Aber niemand scheint zu wissen, wo er steckt, der Rasta-Max.
«Süße, ach süße kleine Klara», brummt der Lemming. Einen Versuch ist es wert. Klara Breitner, die Schwester. Wenn sie inzwischen nicht geheiratet hat, könnte sie im Telefonbuch stehen …
Und wirklich. Da ist es, schwarz auf weiß: Klara Breitner, diplomierte Tierärztin, Roterdstraße 5, sechzehnter Bezirk.
Eine Tierärztin, denkt der Lemming, das kommt ja wie gerufen … Aber Castro hat offenbar keine Lust, das Haus zu verlassen. Er trottet ins Schlafzimmer und lässt sich grunzend auf dem Teppich nieder.
Der Lemming putzt sich ein weiteres Mal die Zähne. Und macht sich dann alleine auf den Weg nach Ottakring.
Das ist wie ein Schlag ins Gesicht, wie ein Tritt in den Bauch. Die Knie knicken zur Seite, etwas tief innen will aufschreien und krümmt sich stattdessen zusammen, ein unbezwingbares Zittern zieht sich den Rücken hinauf, das plötzlich versteifte Genick entlang bis zum Schädel, wo ein Strom von rauschendem Blut die Gedanken mit sich reißt, bis nur noch einer, ein einziger übrig bleibt: Flucht. Niemals hier gewesen sein … niemals geklopft haben … nur nicht dieses alte Straucheln, nur nicht diese alte Nacktheit, nur das nicht, nur irgendwo ganz rasch die innere Ruhe wiederfinden … Flucht … Was tun? … Weglaufen? … Zu spät.
«Zu spät», krächzt der Lemming, schlackernd und blass. Und dabei hat ihm Klara Breitner nur die Tür geöffnet. «Ja bitte?», sagt sie, und ihre Stimme ist dunkel und fern zugleich, ein Sinuston aus einer anderen Welt.
Am Anfang war Eva. Und dann kam Eva, und nur noch Eva. Der Lemming ist damals siebzehn gewesen, und Eva war sechzehn. Zärtlich und ungeschickt, stolz wie junge Götter haben sie ihre Körper erforscht, die Hügel und Täler, die duftenden Härchen, das Leise und Laute, Weiche und Harte, das Fließende, Flammende, Rote. Am Anfang war Eva, ganz selbstverständlich, und Eva würde es bleiben. Es gab keine Furcht, keinen Zweifel, nur alle Zukunft der Welt. Nach einem Jahr ist Eva in die Ferien gefahren und hat mit zwei anderen Männern …
Damals hat das Grübeln begonnen. Mit dem Schock und mit dem Schmerz hat es begonnen, und es hat sich selbst erneuert, Tag für Tag genährt durch Angst und Misstrauen. Nach Eva kam Lisa, die für Eva büßen musste. Und dann Charlotte, um Lisa zu vergessen. Und Doris, um Charlotte zu entmachten. Und so fort. Sie kamen und sie gingen, nach- und durch- und nebeneinander, in immer rascherem Wechsel von Selbstvergessenheit und Selbstbetrachtung, von neuer Leidenschaft und altem Stocken, Stillstehen und Erkalten. Oft und öfter musste der Lemming an den schönen Narziss denken, der eines Tages sein Spiegelbild im Wasser einer Quelle erkennt und die eigene Anmut zu Tode reflektiert. Der Lemming konnte nicht mehr aufhören, sich zu spiegeln, und wenn er auch immer wieder nach frischen Quellen suchte, so zeigten sie doch nach einiger Zeit das alte, trübe Bild.
Und dann kam Jana. Sie war der Quell, der im Boden versickerte, bevor sich der Lemming daran satt gesehen hatte. Sie drehte den Spieß um, sie machte den hilflosen Herrscher zum wehrlosen Diener, machte ihn wahnsinnig, süchtig, krank, brachte ihn außer sich. In seinem Kopf, in seinem Bauch war nichts als Jana, und wenn diese Frau nur zu ihm fand, so schwor er damals, dann sollte da nie wieder Platz für eine andere sein. Der Teufel muss seinen Schwur gehört haben, und der Teufel nahm ihn beim Wort. Er verkaufte ihm Jana für ein Jahr. Wer sich aufgibt, ist nicht mehr vorhanden. Und wer nicht vorhanden ist, den kann man nicht mehr sehen. Es war wohl das gleiche Spiel, nur mit vertauschten Rollen. Jana hat sich am Lemming gesättigt, bis er ihr erblindeter Spiegel war. Dann ging sie, wohin auch immer, und er trat seinen Weg in die Hölle an.
Luzifer wartete schon auf ihn. Bohrte fachgerecht ein Loch durch sein Herz und schraubte ihn fest an die Stahlwand des hölleneigenen, teuflisch modernen Heimkinos. Dann warf er diabolisch grinsend den Projektor an und begann, dem Lemming Breitwandfilme vorzuspielen, in qualvollen Endlosschleifen: Jana. Jana küssen.
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