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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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um Ausschau nach seinem Bestimmungsort zu halten, und endlich entdeckte er ihn, den gewaltigen Umriss in der Ferne. Das Felsmassiv von Massada.
    Am Westufer des Toten Meeres gelegen, ragt Massada erhaben und einsam aus der Wüste empor. Sein Hochplateau, das etwa vierzehn Hektar misst, war schon vor sechstausend Jahren bewohnt, und es diente im Laufe der Zeiten immer wieder als Zufluchtsstätte, bis der Makkabäer Jonathan die erste Burg darauf errichtete. Herodes, König von Judäa, baute Massada dreißig Jahre vor Christus zur stärksten Festung des Landes aus. Zisternen und Badehäuser ließ er anlegen, riesige Wirtschafts-, Vorrats- und Verwaltungsgebäude, luxuriöse Beamtenvillen, die nur von seinem eigenen prächtigen Terrassenpalast übertroffen wurden, schließlich die Kasemattenmauer, die sich um die gesamte Zitadelle zog. Nach Herodes’ Tod wurde Massada zur römischen Garnison, und dann …
    Der Bus bog von der Straße ab, um auf einem weitläufigen Parkplatz am Fuße des Berges zu halten. Janni stieg aus und steuerte gemeinsam mit den anderen Fahrgästen auf die Station der Seilbahn zu, die man im Dienste des Fremdenverkehrs gebaut hatte. Die Sonne brannte wie Feuer auf seiner Stirn, und so ging er in einen kleinen Laden mit allerhand Souvenirs und Touristenkram, um sich eine Kopfbedeckung zu kaufen. Als er wieder ins Freie trat, trug er einen beigefarbenen Tembel auf dem Kopf, einen topfförmigen, weichen Leinenhut, auf dem in mehreren Sprachen die Aufschrift prangte: Nie wieder Massada!
    Und dann … Dann begann der jüdische Krieg. Im Jahr sechsundsechzig nach Christus war es, als in Jerusalem die Erhebung der Juden gegen die Römer ihren Ausgang nahm. Noch im selben Jahr gelang es einer Gruppe von Aufständischen,   Massada einzunehmen. Es war die Partei der Zeloten, was im Hebräischen so viel wie Eiferer bedeutet. Aus den Pharisäern hervorgegangen, die neben den Essenern und Sadduzäern eine der drei großen jüdischen Sekten bildeten, hatten sich die Zeloten zu unerbittlichen Kämpfern gegen die römische Fremdherrschaft entwickelt. Aber die Rebellion wurde niedergeschlagen, Jerusalem fiel an die Besatzer zurück. Einzig die Zeloten hielten noch die Stellung, und sie taten es in der Festung von Massada.
    Nie wieder Massada! … Mit seinem neuen Tembel gegen die Sonne gerüstet, beschloss Janni, auf die Seilbahnfahrt zu verzichten und den so genannten Schlangenpfad zu erklimmen, einen steilen und steinigen Weg, über den man das Felsplateau zu Fuß erreichen kann.
    Im Jahr zweiundsiebzig marschierte der römische Statthalter Flavius Silva mit der zehnten Legion gegen Massada. Fünfzehntausend Mann belagerten die Festung, umschlossen sie mit einem dreieinhalb Kilometer langen Wall und begannen, eine gewaltige Rampe aus Stein und Erde aufzuschütten. Acht Monate lang schleuderten römische Katapulte Felsblöcke gegen die Burg, acht Monate lang scheiterten die Belagerer am Widerstand der Zeloten, und dann …
    Janni ging langsam; Schritt für Schritt schleppte er sich den schattenlosen Steig bergan. Ohne dass es ihm eigentlich auffiel, ohne jegliches staunende Innehalten ging eine Verwandlung in ihm vor, schlich sich etwas in sein Herz, in sein Hirn, in seine Seele. Mit einem Mal gab es keine Vergangenheit mehr und keine Zukunft, nur noch den Staub und die Sonne, den steinigen Pfad und einen einzigen, vagen Gedanken … kein Plan noch, nein, nur ein Gedanke …
    Und dann … Die Römer schlugen eine Bresche in die westliche Schutzmauer und setzten die hölzerne Barriere der Zeloten in Brand. Am nächsten Morgen würden sie die Festung stürmen. Aber es sollte kein ruhmreicher Sieg werden …
    Plötzlich versperrte ein Schatten Jannis Weg. Ein kleiner, ein kurzer Schatten zur Mittagszeit. Der Junge war nicht älter als zwölf, in einen zerschlissenen Kaftan gehüllt, und er hielt einen Becher in der Hand.
    «For your sake … and mine … For your sake …», murmelte der Junge vor sich hin. Ohne weiter nachzudenken, griff Janni in seine Tasche, um ein wenig Kleingeld hervorzuholen. Aber da geschah das Unerwartete. Der Junge hob den Kopf, wie um sein Gegenüber zu erschnuppern, und versperrte Janni mit weit von sich gestreckten Armen den Weg.
    «No», sagte er. «Not you …»
    Der Anführer der Zeloten, Eleazar Ben Ja’ir, hielt an diesem Abend eine flammende Rede an sein Gefolge. Die Niederlage war unabwendbar; die Männer würden hingerichtet, die Frauen geschändet, die Kinder in die

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