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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Sklaverei geführt. Ein einziger Weg, so meinte Eleazar, könne noch in die Freiheit führen und den lange gefassten Beschluss, niemand anderem als Gott zu dienen, besiegeln.
    In derselben Nacht töteten die Männer auf Massada ihre Familien. Danach bestimmte das Los die letzten zehn aus ihren Reihen. Sie nahmen den Übrigen das Leben. Im Blut ihrer Frauen, Kinder und Kameraden wurde der Letzte der zehn Verbliebenen ausgewählt. Er legte das Schwert an die anderen neun und brachte sich am Ende selbst um. Neunhundertsechzig Leichen fanden die Römer auf Massada. Neunhundertsechzig Menschen, die ihre letzte Freiheit, ihren letzten Stolz gewählt hatten. Mörder und Opfer und Selbstmörder …
    «Not you.» Die Stimme des Jungen klang mit einem Mal ganz tief und heiser, als käme sie aus einer anderen Welt. Der Becher entglitt seiner Hand, prallte auf dem Boden auf, sprang zur Seite und über die Kante. Ein paar Münzen spritzten heraus wie glitzernde Wassertropfen, dann fiel das Gefäß den Abhang hinunter, schlug zwei-, dreimal an die Felswand, dass es scharf und blechern widerhallte, und verschwand in der Tiefe. Vollkommen war nun die Stille über der judäischen Wüste. Janni sah den Jungen an, doch er konnte ihm nicht in die Augen sehen. Da gab es keine Augen in dem schmutzigen Gesicht, nur zwei trübe, weißliche Flecken, zwei kleine tote Meere. Der Junge war blind.
    «Go back», rief er jetzt. «Not you. Not now. Go back!»

    Janni würde Massada nie betreten. Kurz darauf saß er verwirrt und benommen im Schatten der Seilbahnstation. Trank zwei Liter Wasser und eine Tasse Kaffee. Arabischen Kaffee. Er wird ähnlich wie griechischer zubereitet, nur stärker und süßer … Trotzdem vermochte er Janni nicht wachzurütteln, konnte seinen Kopf nicht klären. Erst am späten Nachmittag, im Bus nach Jerusalem, fiel die Trance von ihm ab, und er begann zu ahnen, was er eigentlich vorgehabt hatte. An den Ausgrabungen auf der Hochebene war er nicht interessiert gewesen. Irgendwo in seinem Geist waren Vergangenheit und Gegenwart kollidiert, hatte sich eine jahrtausende alte Geschichte mit seiner eigenen verwoben. Ja, er wäre gesprungen, so wie die Lemminge springen. Fast wäre er zum neunhunderteinundsechzigsten Zeloten geworden …

15
    Weh. Noch immer ein großes Weh, und dabei ist schon früher Nachmittag. Jemand hat kochendes Blei in den Schädel des Lemming gegossen, das schwappt bei jeder Bewegung hin und her und wälzt sich den Nacken hinab durch das Knochenmark. Weh. Ein großes, böses Weh. Er hat sich dreimal die Zähne geputzt, er hat einen Liter Kaffee in sich hineingeschüttet, er hat Castros Haare aus der Wanne entfernt und ein Bad genommen, er hat den Wasserhahn leer getrunken, die Fenster geöffnet, sich Eis an die Schläfen gehalten, noch mehr Kaffee aufgestellt. Bis endlich schemenhaft, ganz langsam, die Erinnerung an den gestrigen Abend wiedergekehrt ist. Nach dem Fensterwurf haben Sedlak und er die Flucht ergriffen; sie haben den delirierenden Steinhauser untergehakt und ihn in den nahe gelegenen Lannerpark gezerrt, so viel weiß der Lemming noch. Wahrscheinlich ist, dass er sich dort übergeben hat, unsicher nur noch, wie er und die beiden anderen zum Naschmarkt gekommen sind, um bei der Gräfin noch ein, zwei Achteln nachzulegen. Und ein Gulasch, dessen Reste er heute auf seiner Jacke entdeckt hat. Was absolut ungeklärt bleibt, ist sein Heimweg, ist die Frage, woher der Riss in seiner Hose, das Maschinenöl auf seinen Fingern stammt.
    Castro frisst Haferflocken. Es scheint ihm wirklich besser zu gehen. Dafür spricht auch, dass sein heutiger Haufen keine verbotenen Inhaltsstoffe enthält. Rund dreihundert Gramm Haschisch hat der Hund seit Donnerstag von sich gegeben, das kann man ohnehin als rektale Höchstleistung bezeichnen. Der Lemming nimmt das Einmachglas mit der schwarzbraunen Masse von der Küchenwaage. Was tun mit dem Zeug? Entsorgen, verstecken, ins Klo spülen, vergraben? Ja, wenn er einen Garten hätte …
    Grinzingers Begräbnis fällt ihm ein. Wann sollte es noch stattfinden? Sonntagvormittag, auf dem Zentralfriedhof, unten in Simmering. Vorbei, Lemming, versäumt, verschlafen, versoffen. Der Herr Doktor ist längst eingesargt und verscharrt, die Würmer binden sich ihre Lätzchen um, das Buffet ist eröffnet. Kaffee. Mehr Kaffee, Lemming. Er setzt sich zum Küchentisch und hält seinen schmerzenden Kopf. Jetzt erst mal überlegen. Detektiv sein ist ein harter Job.
    Gedankenfetzen.

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