Der Fall des Lemming
Jana riechen. Jana essen, trinken. Schlafen mit Jana. Lachen mit Jana. Urlaub mit Jana. Und wieder Schlafen mit Jana. Es dauerte eine Ewigkeit, bis dem Lemming die Flucht gelang. Eines Nachts, als Luzifer gerade nicht Acht gab, riss er sich los und türmte. Er hatte bezahlt, und er würde es weiterhin tun. Denn als er wieder mit beiden Beinen auf der Erde stand, musste er feststellen, dass ein Stück seines Herzens da unten geblieben war. Es hing klein und rot an Luzifers Nagel, an der Wand seines Lichtspielpurgatoriums. Der Lemming konnte sich nicht mehr verlieben, sich nicht mehr verlieren. Nur niemals wieder diesen Schmerz bereiten, nicht sich selbst und niemandem sonst. Wer zu laut an den Himmel klopft, der findet sich in der Hölle wieder …
Sechs Jahre sind seither vergangen.
Aber jetzt steht es vor ihm, dieses unbekannte Objekt seiner süßesten Albträume, und es kommt dem Lemming so vor, als habe ihm der Teufel den verlorenen Teil seines Herzens wiedergegeben, um ihn ein weiteres Mal in Versuchung zu führen. Jetzt steht es da, keine zwei Meter entfernt, und blickt ihn fragend an. Diese Frau ist ein einziger Angriff.
«Ja bitte?», wiederholt Klara Breitner.
Ich sollte antworten, wirbelt es dem Lemming durch den Kopf, aber was? Es gibt so viele Möglichkeiten. Das Wetter? Blödsinn. Etwas Tiefsinniges? Nein. Fröhlich sein, Lemming, humorvoll, so als ob nichts geschehen wäre. Es ist ja auch nichts geschehen. Oder doch? Ich sollte jetzt antworten. Egal, was es ist, Hauptsache aufrecht, geradeheraus. Warum bin ich bloß hier?
«Hier bin ich», sagt der Lemming mit dem Brustton der Überzeugung.
Die Frau legt den Kopf ein wenig zur Seite. Und dann lächelt sie. Klara Breitner lächelt, und ihre Augen sind braun. «Das sehe ich. Sie sind hier. Aber ich glaube nicht, dass Sie hier richtig sind. Ich behandle nämlich nur Vierbeiner. Außerdem … es ist Sonntag. Sie sollten besser gleich hinüber ins Wilheminenspital.»
Natürlich. Die Nase. Geschwollen. Wie peinlich. Das Auge. Das Veilchen …
«Dann muss ich mich wohl … Danke jedenfalls …»
Nur dieses Lächeln nicht zerstören. Es mitnehmen, in Erinnerung behalten. Sanft schließt sich die Tür hinter seinem Rücken.
Aber nein! Ich bin doch wegen ihres Bruders … Endlich ein klarer Gedanke. Der Lemming zwingt sich zur Umkehr.
«Verzeihen Sie, aber ich … mein Hund … er konnte nicht mitkommen …»
«Ihr Hund also. Ich mache leider keine Hausbesuche … Was ist es denn für einer?»
«Ja also … Er ist groß. Sehr groß …»
«Groß. Verstehe.»
«Genau. Er ist …»
Hilflos breitet der Lemming die Arme aus, um Castros Umfang zu beschreiben. Aber plötzlich fällt sein Blick an Klara Breitner vorbei in den halbdunklen Vorraum, und da hängt es, das rettende Bild, hängt ihm gegenüber mitten an der Wand.
«Da!», ruft der Lemming. «Das ist er! Also … so einer ist es!»
Mit einem Mal zieht ein unerklärlicher Schatten über Klara Breitners Gesicht. Sie senkt den Kopf und murmelt: «Ein … Leonberger also.»
«Ja, ja, ein Leonberger …»
«Was fehlt ihm denn?»
«Er hat eher … etwas zu viel.» Der Lemming kichert. Ein dummes Kichern. «Ich meine, er … Ich glaube, er hat etwas geschluckt, was er nicht schlucken sollte.»
«Und was?»
«Nun …»
Der Lemming bringt es nicht heraus. Sind Veterinäre an den hippokratischen Eid gebunden? Unterliegen sie der Schweigepflicht? Er weiß es nicht. Es ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, was Klara Breitner von ihm halten würde, wenn er …
«Warum sind Sie wirklich hier?»
Das kommt wie ein Kanonenschuss aus ihrem Mund. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, versteift sich. Ihr Lächeln ist plötzlich wie weggewischt. Der Lemming mag es nicht, wenn sie ihn so ansieht. Er mag es gar nicht. «Ich … wieso …?»
«Falls Sie meinen Bruder suchen, der wohnt nicht mehr hier. Ich weiß auch nicht, wo er steckt. Aber Geld können Sie keines von dem erwarten. Und von mir schon gar nicht!»
Mit lautem Krachen fällt die Tür ins Schloss, nur um gleich noch einmal aufzugehen.
«Und Ihren augenfälligen Kater werde ich auch nicht behandeln!»
Das war deutlich. Das war kurz und bündig. Das war vollkommen unmissverständlich.
Benommen tritt der Lemming den Rückzug an, wankt durch den Garten auf die Roterdstraße hinaus. Klara Breitner hasst ihn. Alles ist verloren. Er bleibt stehen, betrachtet das Haus. Ein hübsches Häuschen. Klein, ein wenig verwinkelt
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