Der Fall des Lemming
Arbeitstag. Das Schweigen der Hämmer …
Er springt aus dem Bett, geht pfeifend ins Bad, rasiert sich, wäscht sich die Haare und begrüßt Castro, der verwundert über den Rand der Wanne blickt, mit einem «Quarantäne beendet, mein Freund! Die Frau Doktor wartet!»
Kein Kaffee an diesem Morgen. Ein frisches Hemd noch, die Schuhe geputzt, und der Lemming ist ausgehbereit. Nein. Ein Zweifel hält ihn zurück. «Bis dann», hat Klara Breitner gesagt. Bis dann – das heißt nicht Bis gleich und nicht Bis morgen früh. Wenige Stunden, kaum einen Tag nach diesem Bis dann gleich wieder nach Ottakring pilgern, frisch gekämmt und aus dem Ei gepellt wie ein verliebter Novize? Viel zu hastig. Viel zu offensichtlich. Viel zu aufdringlich. Im Übrigen, so kehrt der Lemming zu handfesteren Argumenten zurück, braucht Castro eine Hundeleine. Und die muss ich erst besorgen.
Im Hausflur läuft er zwei Polizisten in die Arme.
«Wohnen Sie hier? Hätten S’ kurz Zeit für a Aussage?»
«Worum geht’s denn?»
«Anzeige gegen unbekannt. Ein Akt von Vanda … Vandalistik, nebenan im Zehnerhaus. Haben S’ a Fenster zum Hof hinaus?»
«Schon, ja.»
«Und is Ihna was aufg’fallen, heut oder gestern in der Nacht? A Krawall oder irgendwelche ortsfremden Geräusche?»
«Nicht, dass ich wüsste … Was ist denn geschehen?»
«Auf der Baustelle drüben, wissen S’ eh, hat aner Rambazamba g’macht. Kabeln, Betonmischer, der Motor vom Lastenaufzug, alles ausbandelt, verbogen, zerschnipselt, ausseg’rissen. Marder is des kaner g’wesen …»
«Na, so was … Ich habe aber nichts gehört …»
Name und Türnummer des Lemming wird notiert, und er darf gehen. Und wie er geht. Flinken Schrittes und klopfenden Herzens tritt er hinaus ins wärmende Sonnenlicht. Natürlich, der Riss in seiner Hose. Die ölverschmierten Finger, gestern, nach dem Aufwachen. Das schmiedeeiserne Gitter, das den Hof seines Hauses von dem des Nachbarhauses trennt … Dieser Fall wäre also gelöst. Wenigstens ein Täter, den er kennt.
Er überquert den Ring, geht an der Börse vorbei Richtung Innenstadt, um nach zwanzigminütigem Fußmarsch zum Hohen Markt zu gelangen. Und die ganze Zeit hindurch, den ganzen Weg entlang, grübelt der Lemming über sein Handeln nach. Wie schmal ist der Grat zwischen Unmut und Mut? Zwischen Duldung und Schuld? Zwischen Recht und Moral? Muss er ein schlechtes Gewissen haben? War er ein feiger Saboteur, der verschlagen und geifernd im Schutz der Dunkelheit sein abscheuliches Werk verrichtet? Oder doch ein verwegener Vater Courage, ein urbaner Robin Hood, ein Rossauer James Bond? Nichts davon, entscheidet er schließlich. Er war einfach nur sturzbetrunken. Und er hat sich ein wenig Ruhe verschafft.
Der Hohe Markt, der unweit vom Stephansdom im Zentrum des ersten Bezirks liegt, gilt als ältester Platz Wiens. Verbürgt ist, dass sich hier eine warmluftbeheizte Badeanstalt des Römerlagers Vindobona befand, die so manchem, aus südlicheren Gefilden stammenden Legionär dabei half, seine Rheumabeschwerden zu lindern. Marc Aurel, der römische Kaiser und Philosoph, verbrachte viele Jahre in Vindobona, bevor er im Jahr 180 der schwarzen Pest zum Opfer fiel. Trotzdem: Er defiliert noch heute über den Hohen Markt. An jedem Mittag zieht er als eine von zwölf geschichtsträchtigen Figuren über das Mosaik der so genannten Anker-Uhr, einer brückenförmigen Konstruktion in der nordöstlichen Ecke des Platzes. Dann zücken die Touristen ihre Fotoapparate und lauschen der pythischen Siegesode des Pindar, und keiner mehr, kein Einziger, beachtet die hübschen rosa Schweinswürste, die schräg vis-à-vis im Schaufenster der Fleischerei Pribil hängen.
«Was derf’s denn sein?», fragt die Verkäuferin den Lemming, nachdem der Klang der Glöckchen an der Eingangstür verhallt ist. Sie sieht selbst aus wie eine Wurst, oder besser: Nichts an ihr sieht nicht aus wie eine Wurst. Die Nase: eine Wurst. Das Doppelkinn: eine Wurst. Die feisten Backen: Würste. Der ganze Wurstwanst steckt in einem rotweiß karierten Dirndlkleid mit einer großen rot-weiß karierten Masche vor dem Ausschnitt.
«Den Geschäftsführer würd ich gerne sprechen …»
«Wieso? Haben S’ ’leicht a Beschwerde? Sie san doch grad erst hereinkommen!»
Die immensen Brüste der Wurstfrau heben sich bedrohlich. Der Lemming schluckt.
«Nein, nein. Ich müsste den Herrn Pribil in einer dringenden Angelegenheit …»
«Der is aber net da. Weiß auch net, wo er
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