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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Oder English?»
    «Di Vienna! Madonna mia! Warume ruffe Sie her? Iste meine Mann etwas … come si dice … gessehen?»
    «Meine Güte, nein! Ich meine, ich weiß nicht. Ich kenne Ihren Mann ja gar nicht …»
    Erleichtertes Aufatmen. Dann eine längere Pause. Schließlich meint die Frau um einiges ruhiger: «Allora … Was wolle Sie?»
    «Ich … Ist vielleicht der Chef zu sprechen?»
    «Bene. Sie sind eine Mann eine biske verruckt, si? Signore Diodato e à Vienna, capisce? Vienna!»
    «Aber …»
    Kein Aber. Sie hat aufgelegt. Der Lemming sitzt mit hochgezogenen Schultern und kaut verdrossen an seiner Unterlippe.
    Was ist nur los mit den Frauen? Sie schnauzen ihn an, sie werfen die Tür vor seiner Nase zu, sie knallen grußlos den Hörer auf die Gabel, sie ignorieren ihn bestenfalls … Kann es an seinem ungeheuren Charisma liegen? Ist seine Wirkung auf Frauen so groß, dass er sie alle geradewegs um den Verstand bringt?
    Schon gut, schon gut, der Herr Gemahl geruht, in Wien zu weilen, und ist daher nicht zu sprechen, aber ist das ein Grund … Signore Diodato … Diodato … Und wieder ein Rätsel.
    «Wir haben», sagt der Lemming laut und mit erhobenem Zeigefinger, «einen zerfleischten Fleischer, der in Triest war, dann dessen gleichfalls ermordeten Lehrer, der die Adresse eines Triestiner Gastronomen bei sich trägt, obwohl er gar nicht dort gewesen ist, und schließlich besagten Wirt, der sich seinerseits, natürlich rein zufällig, in Wien aufhält. Ist das jetzt alles, oder ist das jetzt nichts? Weiß ich jetzt endlich, dass ich nichts weiß? Nichts? Rein gar nichts? Himmel, Arsch und Zwirn!»
    Er springt so rasch und wütend auf, dass sein Sessel nach hinten kippt. Castro, der neben ihm auf dem Boden gelegen hat, sucht mit eingezogenem Schwanz das Weite.
    «Und?», ruft der Lemming dem Hund hinterher. «Können wir nun zur lieben Frau Doktor Breitner gehen? O nein, mein Lieber, das können wir nicht! Weil das Herrli jetzt zum Herrn Doktor Kelemen muss, um sich das nächste Orakel abzuholen. Weil sich das Herrli um Dinge kümmert, die es nichts angehen! Und weil das Herrli schon wieder auf deine Scheißhundeleine vergessen hat!»

17
    Es ist mehr als ein Körnchen Erinnerung. Und diese Erinnerung ist in tiefes, warmes Rot getaucht …
    Wie lange ist es her? Zwölf Jahre? Nein, dreizehn. Beinahe dreizehn. Marietta , die rostige alte Dame, war nachmittags an der Mole vor Anker gegangen, und Janni hatte sein Zeug gepackt und in der Dämmerung das Schiff verlassen. Ein Platz zum Schlafen, Essen, eine Flasche Wein, mehr wollte er nicht. Am nächsten Morgen würde er wieder anheuern, auf einem anderen Schiff, mit einem neuen Ziel, ganz gleich, mit welchem. Diese Stadt konnte nicht die seine sein. Schon beim Einlaufen hatte sich Janni des Eindrucks nicht erwehren können, dass sie sich ihres Hafens  zu schämen schien, ja dass sie ihm die kalte Schulter zeigte, um sich den karstigen Bergen im Hinterland zuzuwenden. Die Docks und Lagerhallen, selbst die Anlegestellen der Fischerboote und Jachten trennte eine breite, viel befahrene Straße von den Wohnvierteln, gerade so, als sei das Meer ein peinliches Übel und als wolle die Stadt ihre tief mit ihm verbundene Geschichte verdrängen. Keine offenen Arme also, kein Lächeln und kein freundliches Willkommen für den Seefahrer. Selbst der Wind wehte kalt und trocken und voller Wucht von den Bergen her, schlug Janni ins Gesicht, versuchte, ihn zurückzutreiben, hinaus auf das bewegte Wasser der Adria. Ein brüllender, feindlicher Wind, ein stummer, unergründlicher Ort. Die Bora. Und Triest.
    Natürlich … Triest. Einstiges Liebkind der Monarchie, umzärteltes Nesthäkchen Maria Theresias, Habsburger Tor zur Welt, stattlich, satt und reich, polyglott, ein Schmelztiegel der Nationen und Religionen. Und dann? Von den Launen der Jahrhunderte an den Rand gedrängt, nach und nach seiner Vielfalt, seiner Pracht beraubt, abgenabelt, verarmt in der Abstellkammer Europas, ein vergessener Bastard des freien Westens.
    Nimm dieses eine kleine e aus Triest, dachte Janni, und es wird eins mit seinem Namen sein …
    Doch als er ins Geflecht der langen und engen Straßen eintauchte, begann die Stadt zu leben. Der Lärm ungezählter Autos vermischte sich bald mit jenem der Menschen, die sich kreuz und quer, scheinbar ziellos durch die Häuserschluchten bewegten. Hier und da rotteten sie sich zusammen, drängten sich laut diskutierend auf Gehsteig und Fahrbahn, lösten sich

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