Der Fall des Lemming
dem Herzen, etwas Unverständliches, Irritierendes, einen Zweifel, den er sich selbst erst eingestehen muss. «Sagen Sie, Doktor …»
«No was?»
«Eine Frage … eine alte G’schicht, über zwanzig Jahre her. Ein gewisser Neumann … Ich wollte nur wissen, ob Sie noch wissen …»
«Ob der über meinen Tisch gangen is?»
Bernatzky lächelt und wiegt den Kopf hin und her.
«Du bist mir ein Schlawiner, Wallisch. Weißt du das? Kostest mich noch meinen Job in der Blüte meiner Jugend … Komm her.»
Er zieht den Lemming zur Seite und krault sich nachdenklich den weißen Bart.
«Also pass auf. Kurz gesagt, weder der eine noch der andere. Ich hab die Akten erst vorgestern g’sucht, aber … es gibt sie gar net. Der alte Neumann hat einen Totenschein g’habt, Herzversagen, ganz normal. Den hat sein Hausarzt ausg’stellt, der Doktor Kelemen, übrigens ein Bekannter von mir. Und der junge? Ganz einfach, Wallisch, es hat keine Leich geben … Nur ein Booterl mit Kleidern und Abschiedsbrief. Den Buben selber hat’s wahrscheinlich erst irgendwo in Ungarn an Land g’spült, nackert, wie er war. Und aufg’schwemmt und namenlos, weißt eh, so was kommt ja net selten vor …»
«Das heißt, er könnte …»
«Schau, Wallisch, die forensische Medizin ist eine exakte Wissenschaft. Also lass mich mit Vermutungen in Ruh, das is net mei Aufgab. Deine auch nimmer, nebenbei. Außerdem haben s’ auch den Reisepass von dem Buben g’funden. Den hat er in seiner Jacken stecken lassen. Aber bitte … Dein anthropophager Herr Exkollege is jedenfalls schon seit ein paar Tagen auf der Spur …» Bernatzky tritt noch einen Schritt näher an den Lemming heran und senkt die Stimme.
«Du weißt, dass i nix dagegen hab, wenn du diese kindische Schnitzeljagd g’winnst … Es werden scho Wetten abg’schlossen, auf der Prosektur und am Revier drüben, aber deine Quoten – a Trauerspiel. Wenn i net an Tausender g’setzt hätt auf dich … I kann dir nur raten, geh zum Kelemen, Wallisch. I hab da noch irgendwo … Wart ein bissel … Da hast a Visitkarten von ihm. Geh und frag den Kelemen. I sag dir auch, warum … Er war der Letzte, der den jungen Neumann lebend g’sehn hat.»
Die Visitenkarten. Grinzingers Visitenkarten. Der Lemming hat schon wieder darauf vergessen. Jetzt aber, nach kurzer Vernehmung durch Huber, auf dessen blassem Gesicht sich bereits die dunklen Augenschatten des schlaflos Verliebten abzuzeichnen beginnen, eilt er unverzüglich nach Hause und zieht sie aus seinem Portemonnaie. Acht Stück Karton sind es, die bald vor ihm auf dem Tischtuch liegen, aufgefächert wie das Musterheftchen eines Tapezierers. Der Lemming liest, halblaut und konzentriert.
«Daniel Köhler – Versicherungsberater … uninteressant … Katholischer Familienverband … meiner Seel … Loden Bäuerle – Ihre Tracht für Tag und Nacht … na fesch … OStR. Hektor Promont … Direktor Hektor also … Karner & Co – Antiquariat … Dr. Heinz Zimmermann – Praktischer Arzt … Detektei Cerny & Cerny … selten so gelacht … Osteria Arcangeli – Trieste …»
Der Lemming stutzt.
«Triest», murmelt er, «ausgerechnet Triest.»
Wieso Triest? War es nicht Grinzingers Witwe, die gemeint hat, ihr Mann sei niemals ins Ausland gefahren? Und war es dagegen nicht Peter Pribils Freund, der gestern erzählt hat, sein Liebster sei erst im Jänner in Triest gewesen? Auf Betriebsausflug?
Armer Olaf, denkt der Lemming, wahrscheinlich weiß er noch gar nichts von seinem Unglück, von seinem jungen Witwertum …
Osteria Arcangeli – Via Torino – Triest. Und eine Telefonnummer.
Kurz entschlossen greift der Lemming zum Hörer, wählt und vernimmt unmittelbar darauf das Freizeichen am anderen Ende der Leitung. Klar und laut tönt es, als käme es von einem Apparat im Nebenzimmer.
Wo, denkt der Lemming, sind die Zeiten geblieben, als man Entfernungen noch hören konnte, als sich Distanzen bemerkbar, vernehmbar machten? Je größer der Abstand der Gesprächspartner, desto lauter war auch das Rauschen und Sirren im Hintergrund, desto leiser drangen die Stimmen ans Ohr, desto abenteuerlicher und wichtiger wirkte das Telefonat. Ferngespräch nannte man das, und man fühlte sich dabei, als reise man durch nie erforschte Wolken von Sternenstaub …
«Pronto?» Es ist die Stimme einer Frau. «Pronto?»
«Äh, Verzeihung, scusi, io parlare, äh, di Wien … Vienna, comprende? Lei parlate, äh, Deutsch?
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