Der Fall des Lemming
steckt. Sonst is er immer pünktlich …»
Glöckchenklang. Ein Kunde betritt das Geschäft.
Der Lemming ahnt nicht, was von hinten auf ihn zukommt. Er ahnt es erst, als er das Knarren von sprödem Leder vernimmt und ein warmer Atemzug seinen Nacken streift. Dann eine Hand, die sich zärtlich und schwer auf seine Schulter legt.
«A Fleischlaberlsemmel, Fräulein, wann S’ so lieb san», schnurrt Bezirksinspektor Krotznig.
Der Lemming rührt sich nicht. Er betrachtet die gewandten Wurstfinger der Verkäuferin, wie sie die Semmel aufschneiden und auf die eine Hälfte ein dickes faschiertes Laibchen legen.
«Gurkerl, der Herr?»
«Gurkerl hamma selber.»
Die Wurstfrau lacht auf und zwinkert Krotznig zu.
«Soll ich’s einpacken, der Herr?»
«Ned nötig, schöne Frau, des is glei zum Essen … Sagn S’, is der Chef da?»
«Nein, leider, der is noch net auf’taucht heut … Was wollen S’ denn heut alle vom Chef?»
«A so? Wer will denn ’leicht no was vom Herrn Pribil?»
«Na, Ihr Freund da …»
Die Hand wandert von der Schulter des Lemming aufwärts und beginnt, mit sanftem Druck seinen Nacken zu kneten. Krotznig zahlt mit der anderen und nimmt seine Semmel entgegen.
«Küss die Hand, Fräulein. I kumm später wieder …»
«Kommen S’ nur, der Herr, sooft Sie wollen …»
Es ist Punkt elf. Draußen auf dem Hohen Markt ertönt das Glockenspiel der Anker-Uhr. Ein Menuett von Mozart perlt auf die Schaulustigen herab, während hoch über ihren Köpfen Maria Theresia mit ihrem Gemahl Franz Stefan erscheint und wenige Meter hinter ihnen der Lemming mit eisernem Griff auf die Straße geschoben wird. Krotznig sagt kein Wort. Hält den Lemming am Kragen fest und beißt in die Semmel mit dem Fleischlaibchen. Kaut und schmatzt genießerisch, die Augenlider auf Halbmast gesenkt. Beißt noch einmal herzhaft zu.
«Wollen S’ Ihre Rechte wissen, der Herr?», fragt er nun beiläufig, mit vollem Mund und ohne den Lemming anzusehen. Krotznig erwartet keine Antwort. Er dreht die Semmel hin und her, rülpst und schlägt die Zähne abermals ins Fleisch.
Es gibt sie, die schönen Momente im Leben. Und das sind nicht selten zugleich die schockierenden, traurigen. An das, was jetzt passiert, wird der Lemming stets mit gemischten Gefühlen zurückdenken. Mit Schaudern und schamhaftem Mitleid, aber auch mit verhaltener Freude. Oben lustwandelt die Kaiserin zu Mozarts hellen Klängen, und unten dringt ein dumpfes Knirschen aus Krotznigs Mund. Mit einem Mal treten seine Augen aus den Höhlen, er nimmt die Hand vom Kragen des Lemming, fährt sich selbst an die Gurgel, hustet und würgt; spuckt einen Brocken aufs Trottoir. Beugt sich darüber, zuckt zurück, kreidebleich, schleppt sich röchelnd zur Bordsteinkante, fällt auf die Knie und übergibt sich. Auf dem Asphalt liegt rötlich gelb der halb zerkaute Klumpen. Ein Büschel kurzer, neckisch gekräuselter Haare schaut daraus hervor, und dazwischen glitzert ein kleines silbernes Fischlein.
«No schau, der Wallisch …»
Mit lautem Schnalzen zieht sich Doktor Bernatzky die Gummihandschuhe von den Fingern, wackelt durch den Verkaufsraum der Fleischhauerei und schiebt den im Eingang postierten Polizisten zur Seite. Er tritt auf den Lemming zu und meint fröhlich: «Da hat einer Überstunden g’macht, hinten am Fleischwolf. Zum Obduzieren is da nimmer viel … Und du? Bist es scho wieder net g’wesen, du Schlingel, was?» Bernatzky zwinkert verschwörerisch.
«Sag, wo is denn der Kotz-, also der Krotznig hin? Verdauungsspaziergang?»
In gewisser Weise hat Bernatzky damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Herr Bezirksinspektor ist mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren worden, nachdem er Peter Pribils Weichteiltatar in den Rinnstein gewürgt hat; wahrscheinlich wird ihm dort gerade der Magen ausgepumpt, um ihn von den letzten Resten Hackepeter zu säubern. Anstelle von Krotznig sitzt jetzt der junge Huber hinten im Büro und vernimmt die karierte Wurstfrau.
«Also Wallisch, du meinst, das Fleischlaberl war der Geschäftsführer, Pribil oder was … Weißt eh, a Identifikation is schwierig in dem Fall. Am Geschmack können wir’n ja net erkennen, und Knochen, Gebiss … das is alles verschwunden.»
«Aber der Silberfisch …»
«Mein Enkerl hat auch so was, in der Nas’n allerdings … Na, wer’n ma schaun, ob im Labor was herauskommt.» Bernatzky nickt dem Lemming freundlich zu und schickt sich zum Gehen an. Doch der Lemming hat noch etwas auf
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