Der Fall des Lemming
wieder auf, strebten weiter. Das Klima, die Menschen, die Häuser – eine Mischung aus levantinischer Luft, südlichem Wesen und Ringstraßenprunk.
Nichts schien hier zusammenzupassen, aber das mit einer gewissen Selbstverständlichkeit.
Janni steuerte auf den großen Hügel in der Mitte der Stadt zu, San Giusto, auf dessen Gipfel das mächtige Castello thronte. Wenn es hier so etwas wie ein altes Matrosenviertel gab, so dachte er, dann musste es links davon liegen, irgendwo zwischen San Giusto und dem westlichen Hafenbecken. Er ging langsam, und es wurde dunkel. Morgen. Morgen würde er Triest den Rücken kehren …
Er bog von der Via Lazaretto Vecchio in die Via Torino ein und erblickte das spärlich erhellte Portal eines Restaurants. Janni zögerte nicht. Zugreifen, die erste Chance beim Schopf packen, nicht lange gustieren, suchen und vergleichen, um schließlich dahin zurückzukehren, wo der Wirt gerade die Läden dichtmacht. Das war es, was er in all den Jahren gelernt hatte: Der beste Stuhl ist immer der, auf dem du sitzt.
Er drückte die Tür auf und betrat die Osteria Arcangeli . Und er ahnte mit keiner Faser seines Herzens, dass es ein Schritt in ein neues Leben war.
Wenig später saß er bei einem Krug friulanischen Tokajers und betrachtete das Lokal. Ein hoher, gekalkter Raum, von zwei gemauerten Bögen durchzogen, eine breite, holzverkleidete Theke, eine Kühlvitrine, dunkel furniert. Darüber ein Mobile aus Muscheln und Seesternen. Auf der Bar ein durchsichtiger Kunststoffwürfel, der wohl einen Eisblock darstellen sollte und in dem eine blinkende Flasche Campari eingegossen war. Ein Ventilator mit bunten wehenden Bändchen. Ein Schiff in der Flasche neben einer Nixe aus Gips mit abgebrochenem Schwanz. An der Wand drei ausgestopfte Fische, ein paar Fotografien, dazwischen einige alte, verrostete Schlüssel. Alles in allem eine Sammlung unsäglicher Geschmacklosigkeiten, und doch fügten sie sich mühelos zu einem harmonischen Ganzen zusammen, verliehen dem Raum die legere Atmosphäre unbefangener Ästhetik. Darin, so befand Janni, blieben sie unübertroffen, die Italiener. Verspielt? Ja, das waren sie, aber fast niemals kulturlos. Und sie konnten kochen, auch hier, in der Osteria Arcangeli .
Trotzdem sollte Janni bald keinen Sinn mehr für kulinarische Freuden haben. Er würde sich später nicht einmal seiner Bestellung erinnern. Wahrscheinlich war es eine Suppe, eine Minestrone möglicherweise, die der alte, schnauzbärtige Wirt mit freundlichem «Buon appetito» vor ihm auf den Tisch stellte, als sich hinter der Schank die Tür zur Küche auftat.
Nur ein Glas Rotwein. Sie holte nur ein Glas Rotwein. Sie trat an die Theke und entkorkte die Flasche. Ihre Hände waren hell und schlank. Ihre Augen schweiften durchs Lokal, und für einen Moment blieben sie in denen Jannis hängen. Schwarze, tiefschwarze Augen. Sie schenkte das Glas halb voll und drehte sich um. Ein weißes Tuch verbarg ihr Haar. Sie verschwand wieder in der Küche.
Janni starrte auf die Tür, bis er den fragenden Blick des Wirts spürte; dann aß er und trank und rauchte, und er tat alles mit größtmöglicher Langsamkeit. Aber die junge Frau tauchte nicht wieder auf. Nicht an diesem Abend. Mag sein, der beste Stuhl ist immer der, auf dem du sitzt. Aber wenn Janni in all den Jahren noch etwas anderes gelernt hatte, dann war es das: Rück den Stuhl an den Tisch, bevor du dich setzt.
Er verbrachte die Nacht im Park, hoch oben auf dem Hügel von San Giusto. An einen Baum gelehnt, sah er auf die schlafende Stadt hinunter, während die Bora in seinen Ohren, in seinem Kopf, in seiner Seele wütete. Am nächsten Vormittag bezog er ein billiges Zimmer in der Via Zanetti, gleich hinter der alten Synagoge. Hier verbrachte er die folgenden Wochen. Er las, ging spazieren, schlug die Minuten tot und wartete auf seine Stunde. Mit Einbruch der Dämmerung machte er sich in die Via Toritto auf, um in der Osteria Arcangeli zu Abend zu essen. Tag für Tag tat er das, und er tat es mit der unerschütterlichen Zuverlässigkeit der Gezeiten.
Am Ende würde alles so einfach gewesen sein. Obwohl sich sein Italienisch auf eine unbeholfene Mischung aus altem Latein und Französisch beschränkte, kam er bald mit Signore Arcangeli, dem Wirt, ins Gespräch. Und eines Nachts, nach der Sperrstunde, auch mit dessen Tochter, der jungen Frau aus der Küche. Raffaella, das war ihr Name. Er schmolz auf Jannis Zunge. Und er pochte in seiner Brust. Janni erfuhr,
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