Der Fall (German Edition)
erbost, es aus Mangel an Geistesgegenwart nicht verstanden zu haben, mit den Folgen meiner Wut fertig zu werden. Stattdessen brannte ich darauf, Vergeltung zu üben, dreinzuschlagen und zu siegen. Als bestünde mein wahres Verlangen nicht darin, das intelligenteste und großzügigste Geschöpf auf Erden zu sein, sondern zu schlagen, wen ich gerade Lust hätte, endlich der Stärkere zu sein, und zwar auf die allerprimitivste Weise.
In Tat und Wahrheit – Sie wissen es selber genau – träumt jeder intelligente Mensch davon, ein Gangster zu sein und mit roher Gewalt über die Gesellschaft zu herrschen. Da dies nicht so einfach ist, wie die einschlägigen Romane glauben lassen mögen, verlegt man sich im Allgemeinen auf die Politik und läuft in die grausamste Partei. Aber, nicht wahr, man kann ja seinen Geist ruhig erniedrigen, wenn einem dafür alle Welt untertan wird! Ich entdeckte in mir süße Unterdrücker-Träume. Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war. Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach einer solchen Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen, zur Verteidigung der Witwen und Waisen prädestiniert.
Da der Regen immer stärker wird und wir Zeit genug haben, darf ich es vielleicht wagen, Ihnen eine weitere Entdeckung anzuvertrauen, die mir mein Gedächtnis wenig später bescherte. Setzen wir uns auf diese Bank, hier sind wir vor der Nässe geschützt. Seit Jahrhunderten sitzen hier Männer, rauchen ihre Pfeife und schauen in den ewig gleichen Regen über dem ewig gleichen Kanal. Was ich Ihnen jetzt zu erzählen habe, ist ein bisschen schwieriger. Es handelt sich diesmal um eine Frau. Ich muss vorausschicken, dass ich bei den Frauen immer Erfolg hatte, und zwar ohne mich besonders anzustrengen. Ich sage nicht, ich hätte den Erfolg gehabt, sie oder auch nur mich selbst durch sie glücklich zu machen. Nein, ganz einfach Erfolg. Ich erreichte, was ich wollte, mehr oder weniger wann ich wollte. Man fand, ich habe Charme, stellen Sie sich das vor! Sie wissen ja, was Charme ist: eine Art, ein Ja zur Antwort zu erhalten, ohne eine klare Frage gestellt zu haben. In dieser Lage befand ich mich damals. Das überrascht Sie offenbar? Sie dürfen es ruhig zugeben. Mein jetziges Aussehen ist ja wirklich nicht mehr danach. Ach! Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich. Das meine … Aber das ist ja gleichgültig! Die Tatsache bleibt bestehen. Man fand, ich habe Charme, und ich nützte diesen Umstand aus.
Indessen war gar keine Berechnung dabei; ich war aufrichtig, oder doch beinahe. Meine Beziehungen zu den Frauen waren natürlich, einfach, ungezwungen. Ich verwandte keine Schliche, außer vielleicht jenen offenkundigen, die die Frauen als Kompliment auffassen. Ich liebte die Frauen, wie man zu sagen pflegt, das heißt, dass ich keine je geliebt habe. Ich habe Frauenhass immer vulgär und dumm gefunden, und beinahe alle weiblichen Wesen, die ich kannte, schienen mir besser zu sein als ich. Aber obwohl ich eine so hohe Meinung von ihnen hegte, habe ich sie häufiger ausgenützt als ihnen gedient. Wie soll man sich da zurechtfinden?
Natürlich ist wahre Liebe eine Seltenheit, die kaum zwei- oder dreimal in einem Jahrhundert vorkommen mag. Alles andere ist Eitelkeit oder Langeweile. Ich jedenfalls war keine portugiesische Nonne. Mein Herz ist beileibe nicht fühllos, im Gegenteil, es überbordet vor Rührseligkeit, und zudem habe ich nahe am Wasser gebaut. Nur sind meine Herzensregungen immer auf mich selbst gerichtet, und meine Rührung betrifft meine eigene Person. Es stimmt übrigens nicht, dass ich nie geliebt habe. Ich habe in meinem Leben zumindest eine große Liebe gekannt, und ihr Gegenstand war jederzeit ich. In dieser Hinsicht war meine Haltung nach den unvermeidlichen Schwierigkeiten der frühen Jugendjahre gar bald festgelegt: die Sinnlichkeit, und nur sie allein, beherrschte mein Liebesleben. Ich suchte einzig nach Objekten der Lust und der Eroberung. Meine Veranlagung kam mir dabei übrigens zustatten, hat die
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