Der Fall (German Edition)
Freundlichkeit und völlig freien Stücken; so blieb mein Verdienst ungeschmälert, und ich kletterte in meiner Eigenliebe wieder um eine Stufe höher.
Nebst einigen anderen Wahrheiten habe ich auch diese offenkundigen Tatsachen im Verlauf der Zeit, die auf jenen bewussten Abend folgte, nach und nach entdeckt. Nicht sogleich, nein, und auch ohne sie von Anfang an besonders deutlich zu erkennen. Denn dafür musste ich erst mein Gedächtnis wiederfinden. Allmählich begann ich dann klarer zu sehen und einiges von dem, was mir bekannt war, bewusst in mich aufzunehmen. Bis dahin hatte mir immer meine erstaunliche Fähigkeit des Vergessens geholfen. Ich vergaß alles, angefangen bei meinen Vorsätzen. Im Grunde zählte überhaupt nichts. Krieg, Selbstmord, Liebe, Elend – natürlich schenkte ich ihnen Beachtung, wenn die Umstände mich dazu zwangen, aber immer mit einer Art höflicher Oberflächlichkeit. Zuweilen gab ich vor, mich für irgendeine Angelegenheit zu erwärmen, die nicht unmittelbar mein alleralltäglichstes Leben berührte. Im Grunde nahm ich indessen keinerlei Anteil daran, außer natürlich, wenn mir meine Freiheit gefährdet schien. Wie soll ich es Ihnen erklären? Es glitt irgendwie ab. Ja, alles glitt an mir ab.
Doch seien wir nicht ungerecht: Meine Vergesslichkeit war hie und da auch verdienstlich. Es gibt bekanntlich Leute, deren Religion als Hauptgebot verlangt, alle Schulden zu vergeben; sie vergeben sie auch tatsächlich, aber sie vergessen sie nie. Ich war nicht gutmütig genug, um die Schulden zu vergeben, aber letzten Endes vergaß ich sie immer. Und manch einer, der überzeugt war, ich könne ihn nicht ausstehen, verging fast vor ungläubigem Staunen, wenn er meinen freundlich lächelnden Gruß empfing. Je nach seiner Veranlagung bewunderte er dann meine Seelengröße oder verachtete mich als Waschlappen, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass meine Gründe viel einfacher waren: Ich hatte alles vergessen, selbst seinen Namen. Das gleiche Gebrechen, das mich gleichgültig oder undankbar machte, verlieh mir dann den Anschein der Großmut.
So lebte ich dahin, und das einzig Beständige im Wechsel der Tage war mein Ich, ich und nochmals ich. Es wechselten die Frauen, es wechselten Tugend und Laster, immer in den Tag hinein, wie die Hunde, aber alle Tage, ohne Ausnahme, ich, unerschüttert derselbe. So bewegte ich mich ständig an der Oberfläche des Lebens, gewissermaßen in tönenden Worten, nie in der Wirklichkeit. All die kaum gelesenen Bücher, die kaum geliebten Freunde, die kaum gesehenen Städte, die kaum besessenen Frauen! Mein Tun und Lassen war von Langeweile oder Zerstreutheit bestimmt. Die Menschen folgten nach, wollten sich anklammern, aber sie fanden keinen Halt, und das war das Unglück. Für sie. Denn ich für mein Teil vergaß. Ich habe mich nie an etwas anderes erinnert als an mich selber.
Aber nach und nach kehrte mein Gedächtnis zurück. Oder vielmehr kehrte ich zu ihm zurück, ich fand die Erinnerung wieder, die auf mich gewartet hatte. Aber ehe ich darauf zu sprechen komme, gestatten Sie mir, Verehrtester, Ihnen für das, was ich im Verlauf meines Forschens entdeckte, ein paar Beispiele zu geben. Sie werden Ihnen, dessen bin ich gewiss, von großem Nutzen sein.
Als ich eines Tages am Steuer meines Wagens eine Sekunde zögerte, ehe ich beim grünen Licht losfuhr, und unsere so geduldigen Mitbürger unverzüglich in meinem Rücken ein Hupkonzert anstimmten, fiel mir jäh ein anderes Begebnis wieder ein, das sich unter ähnlichen Umständen zugetragen hatte. Ein kleiner, hagerer Motorradfahrer mit Kneifer und Golfhose hatte mich überholt und sich beim roten Licht vor mir aufgepflanzt; dabei hatte er versehentlich seinen Motor abgestellt, und nun bemühte er sich vergeblich, ihn wieder in Gang zu bringen. Als das Licht grün wurde, bat ich ihn mit meiner gewohnten Höflichkeit, sein Motorrad an den Straßenrand zu schieben und mich vorbeizulassen. Der Kleine murkste immer noch an seinem kurzatmigen Motor herum. Er antwortete mir nach guter Pariser Sitte, ich solle mich zum Teufel scheren. Ich wiederholte mein Ansinnen immer noch höflich, aber mit einem leisen Unterton von Ungeduld. Worauf er mir prompt erklärte, auf jeden Fall könne ich ihn … Mittlerweile ging hinter mir das Gehupe wieder los. Ich ersuchte also meinen Motorradfahrer mit allem Nachdruck, gefälligst höflich zu bleiben und sich klarzumachen, dass er ein Verkehrshindernis bilde. Darauf erklärte der
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