Der Fall Lerouge
Essen muÃte ich deinen Freunden gegenüber so tun, als kennte ich dich nur flüchtig. Dabei hast du getrunken wie ein Pferd, ohne lustig zu werden.«
Noël, dem das Thema unangenehm zu werden begann, sagte schnell: »Reden wir von anderem.« Dann sah er auf die Uhr. »Ich muà bald gehen.«
»Schon?«
»Meine Mutter ist erkrankt.« Er blätterte die Geldscheine, die er von Tabaret erhalten hatte, auf das Tischchen neben dem Diwan. »Das sind nicht nur achttausend, das sind zehntausend Francs. Das soll eine kleine Entschädigung dafür sein, daà ich dich die nächsten Tage nicht besuchen kann.«
»Du verläÃt die Stadt?«
»Ein wichtiges Geschäft läÃt mir zu nichts anderem Zeit. Wenn es gelingt, dann ist unsere Zukunft gesichert. Dann sollst du erfahren, wie ich dich liebe.«
»Liebster, sag mir, worum es geht!«
»Später.«
»Bitte, sagâs mir.« Juliette erhob sich vom Diwan, legte ihm die Arme um den Hals und küÃte ihn. Noël erwiderte den KuÃ.
»Ich kann es nicht«, stieà er unter Aufbietung aller Kräfte hervor. »Es wäre auch töricht, Hoffnungen zu wecken, die sich dann vielleicht doch nicht erfüllen. Ich beschwöre dich: Laà dich auf keinen Fall in der Nähe meiner Wohnung sehen. Schreib mir auch nicht. All das könnte schweren Schaden für mich im Gefolge haben. Gib mir Nachricht über Clergeot, den alten Wucherer, wenn sich etwas Wichtiges ereignen sollte.«
»Warum willst du mir nichts erzählen?«
»Ich kann heute nicht. Bald erfährst du ohnehin alles.«
»Schon wieder diese Geheimniskrämerei!« Juliette stampfte mit dem Fuà auf.
»Nur noch dieses Mal. Auf mein Wort.«
»Du verbirgst etwas vor mir«, sagte Juliette ernst. »Seit Tagen bist du nicht mehr der alte. Versuch nur nicht, mich hinters Licht zu führen. Die Rache einer Frau kann furchtbar sein. Und jetzt gute Nacht! Ich bin müde.«
Kaum hatte Noël die Wohnung verlassen, da sagte Juliette zu Charlotte: »Ich halte den Kerl nicht mehr aus. Manchmal glaube ich, er könnte mich umbringen. Dieser Blick! Vielleicht will er heiraten und mich loswerden. Aber das lasse ich nicht zu. Ich muà erfahren, was er im Schild führt.«
Noël eilte nach Hause und betrat das Gebäude wieder durch die Tür, durch die er es verlassen hatte. In seinem Zimmer angelangt, lieà er sich in einen Sessel fallen. Das Klopfen des Dienstmädchens schreckte ihn hoch.
»Monsieur! Monsieur!«
»Was gibtâs?«
»Schon zum drittenmal klopfe ich. Madame Gerdy stirbt, fürchte ich.«
Als er dann am Bett der kranken Frau stand, konnte er angesichts ihres Verfalls ein Gefühl des Mitleids nicht unterdrücken. Madame Gerdy quälte sich sehr, ihr Gesicht war blutleer, ihr Blick schien nichts mehr wahrzunehmen, das Haar hing ihr strähnig auf die Wangen hinunter. Ab und zu stieà sie unverständliche Laute aus. Sie schien Noël nicht zu erkennen.
»Holen Sie Doktor Hervé!«, befahl er dem Mädchen. Bis der Arzt eintraf, saà er neben ihrem Bett.
»Was gibtâs?« fragte Hervé, der sich in Windeseile angezogen hatte und dem Mädchen gefolgt war.
Noël deutete nur stumm auf Madame Gerdy.
Hervé machte sich sofort an die Untersuchung. Dann richtete er sich auf und fragte: »Was ist passiert? Ich muà alles wissen.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Noël unsicher.
»So, wie ich es gesagt habe«, antwortete Hervé unwirsch. »Hier liegt ein Fall von schwerem Hirnfieber vor, die Symptome deuten darauf hin. Diese schwere Krankheit verläuft meist tödlich. Und wenn der Kranke auch mit dem Leben davonkommt, sein Hirn bleibt geschädigt. In der Regel entspringt die Krankheit einer heftigen Erregung.«
»Sie wurde von Gewissensbissen geplagt«, sagte Noël. während er den Arzt ein Stück vom Bett wegführte, mit gedämpfter Stimme. »Ein Verbrechen lastet ihr auf der Seele und die Furcht, es könnte ans Tageslicht kommen. Sie sind ein Freund des Hauses, Hervé, und so darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen: Madame Gerdy ist nicht meine Mutter. Sie hat, um ihrem Sohn mein Vermögen und meinen Namen zuzuspielen, mein Lebensglück geopfert. Zufällig bin ich alldem vor drei Wochen auf die Spur gekommen. Daraufhin sagte ich ihr die Manipulation auf den Kopf zu. Das wird wohl
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