Der Fall Lerouge
sie trösten. Mag sein, ich könnte sie nach Jahren dazu bringen, ihre Liebe zu diesem Mörder zu vergessen; mag sein, sie würde meiner Werbung Gehör schenken ... Unter diesen Umständen aber wird sie mich hassen, werde ich in ihren Augen der Mörder ihres Geliebten sein. Durch eigene Schuld habe ich einen Graben zwischen ihr und mir gezogen, der nie zu überbrücken sein wird. Und Daburons Haà richtete sich gegen Albert, der wieder einmal zwischen ihm und seinem Glück stand. Aber auch gegenüber Vater Tabaret hegte er keine freundlichen Gedanken. SchlieÃlich war er es, der ihn auf diesen Weg gedrängt und seine Ãberlegung beeinfluÃt hatte. Von sich aus hätte er nie eine derartige Entscheidung wie die sofortige Verhaftung des jungen Grafen de Commarin getroffen.
Und gerade in diesem ungünstigen Moment kam Tabaret ins Büro Daburons, begierig, von dem Ergebnis des Verhörs zu erfahren. Dabei wiegte er sich in der Hoffnung, daà sich alle seine Prognosen bestätigt hatten.
»Hat er endlich gestanden?« fragte er noch auf der Schwelle.
»Er ist ohne Zweifel der Mörder ...«
Daburons Gereiztheit, die so sehr in Kontrast zu seiner sonstigen Liebenswürdigkeit stand, überraschte Tabaret.
»Ich wollte mich nur erkundigen«, sagte er bescheiden, »ob Nachforschungen betreffs des Alibis des jungen Grafen nötig sind.«
»Er hat kein Alibi«, antwortete Daburon.
»Kein Alibi?« rief Tabaret. »So hat er gestanden?«
»Er hat auch kein Geständnis abgelegt.« Daburon schien nur, widerwillig Auskunft geben zu wollen. »Gegen die Beweise kann er nichts vorbringen, behauptet aber, er wisse nicht, wo er den fraglichen Abend verbracht hat. Und er besteht darauf, er ist unschuldig.«
Das stürzte Tabaret in Staunen. Töricht sah der Alte aus, wie er mit offenem Mund und starren Augen mitten im Zimmer stand, wie zur biblischen Salzsäule erstarrt. Jetzt lächelte auch Daburon, und über Constants stumpfe Miene zog ein Grinsen.
»Das verstehe ich nicht. Kein Alibi. Keine Erklärung dafür, wo er gewesen ist. Absurd! Unbegreiflich!« Das stieà Tabaret atemlos hervor. Dann verstummte er, ehe er plötzlich rief: »Dann ist er nicht der Mörder, dann kann er es nicht sein!«
»Sagen Sie, Tabaret, haben Sie das Ende der Vernehmung in der Weinstube unten an der Ecke abgewartet?« Daburons Verblüffung über die Meinungsänderung des Alten war grenzenlos. »Wir haben uns nicht geirrt. Commarin ist der Mörder. Lesen Sie sich das Vernehmungsprotokoll durch, und Ihre Zweifel werden verflogen sein.«
Tabaret setzte sich auf den Stuhl des Protokollanten, stützte die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände. Wie im Fieber irrten seine Blicke durch die Zeilen des Aktenstücks. Als er zum Ende gekommen war, starrte er kreidebleich vor sich hin, sprang auf und rief: »Das wollte ich nicht! Monsieur Daburon, ich wollte nicht der Urheber eines gräÃlichen Irrtums sein. Albert de Commarin ist nicht der Mörder!«
»Beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Daburon, während er sich daranmachte, seine Sachen zusammenzupacken. »Verlieren Sie nicht den Kopf. Das Protokoll ist doch ganz eindeutig.«
»Es ist ganz eindeutig. Und gerade darum bitte ich Sie, Albert freizulassen. Andernfalls verlängern Sie die traurige Liste der Justizirrtümer. Lesen Sie sich das Protokoll noch einmal durch. Sie finden nicht eine Antwort, die nicht für seine Unschuld spricht. Er muà sofort entlassen werden.«
»Er ist in Einzelhaft, und er bleibt in Einzelhaft«, entschied Daburon. »Und Sie ... Wie können Sie jetzt so reden? In der Nacht, als ich noch zögerte, haben Sie ...«
»Lassen Sie mich einiges erklären«, sagte der Alte ungeduldig, »und nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage: Sie haben meine Methode nicht begriffen. Habe ich ein Verbrechen aufzuklären, so errichte ich aus allen Umständen und Einzelheiten das Gebäude des Tathergangs. Danach suche ich nach einem Menschen, auf den die Konstruktion in allem, auch in der geringsten Einzelheit, paÃt. Ist der gefunden, ist der Verbrecher gefunden. Verstehen Sie, Monsieur: Alles muà passen, sonst beschuldigen wir einen Unschuldigen. Es genügt nicht, wenn die eine oder die andere Einzelheit übereinstimmt. Wenn nur ein Detail auf den Verdächtigen nicht
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