Der Fall Lerouge
Ohnmacht? Daburon war darauf vorbereitet, die Gesellschafterin herbeirufen zu müssen.
Aber er täuschte sich. Claire brach nicht zusammen, vielmehr richtete sie sich auf. Ihr Gesicht zeigte Entschlossenheit, als sie sagte: »Wer so etwas behauptet, ist ein Lügner. Albert kann kein Mörder sein. Ich würde es nicht glauben, wenn er hier stünde und es zugäbe.«
»Er hat noch nicht gestanden, wird aber gestehen müssen«, sagte Daburon nun schon sachlicher. »Wir haben mehr als genug Beweismaterial, um ihn zu überführen. Seine Schuld zu leugnen hieÃe, zu leugnen, daà jeden Morgen die Sonne aufgeht.«
»Und ich sage, das Gericht täuscht sich«, erklärte Claire fest. »Glauben Sie mir, ich kenne Albert, kenne ihn besser als er sich selbst, und ich vertraue ihm, wie ich Gott vertraue, und eher würde ich an mir zweifeln als an ihm!«
Daburon wollte, betroffen von so viel hitzigem Engagement, etwas einwerfen; aber Claire wehrte seine Worte mit einer entschlossenen Geste ab.
»Um seinetwillen, Monsieur, habe ich Sie aufgesucht; um seinetwillen spreche ich so zu Ihnen, obwohl es sich vielleicht nicht schickt. Wir lieben uns seit vier Jahren, und keiner hat je dem anderen seine geheimsten Gedanken verschwiegen. Und glauben Sie mir: Er ist es wert, geliebt zu werden. Ich kann seinen Anstand ermessen, seine Lauterkeit. Und Sie behaupten, er sei ein Mörder! Er war unglücklich, und er war einsam wie ich. Denn sein Vater liebte ihn nicht. Die traurigen Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben, haben uns so aneinandergefesselt, als wären wir ein und derselbe Mensch. Und nun behaupten Sie, er sei ein Mörder. Warum soll er ein Mörder geworden sein? Genausogut könnten Sie mir diese Ungeheuerlichkeit vorwerfen.«
»Der Name und das Vermögen der Commarins standen ihm nicht zu, das hat er vor kurzem erfahren, und das hat ihn erschüttert. Der einzige Mensch, der das beweisen konnte, war eine alte Frau, und sie hat er umgebracht, um Stellung und Vermögen zu behalten.«
»Aber das ist doch Unsinn, gemeine Verleumdung!« rief Claire im Zorn. »Er hat mir das alles erzählt, und er war tief betrübt ... aber um meinetwillen. Er dachte, ich könnte traurig sein, wenn er mir das nicht mehr geben könne, was er für mich erträumt hatte. Dabei habe ich unter seinem Namen, seinem unermeÃlichen Vermögen nur gelitten. Als ob ich ihn um dieser Dinge willen geliebt hätte! Als ich es ihm versichert hatte, war er wieder fröhlich. Er sagte: âºWenn du mich so sehr liebst, dann ist alles andere für mich bedeutungslos.â¹ Und ich soll nach alledem glauben, er habe einen Mord an einer alten Frau begangen? Wagen Sie es nicht, mir das noch einmal zuzumuten!«
Im letzten Satz lag eine offene Kampfansage, und Daburon nahm sie an. Sachlich, um Mademoiselle dâArlanges zu überzeugen und um seine Haltung vor sich selber zu rechtfertigen, setzte er die Gründe auseinander.
»Mademoiselle«, sagte er, »es gibt Umstände, die einen Menschen von Grund auf verwandeln können. Nichts liegt mir ferner, als an der Ehrlichkeit Ihrer Worte zu zweifeln. Doch können Sie wirklich ermessen, wie schwer der Schlag war, der Monsieur de Commarin getroffen hat? Die Verzweiflung kann ihn zu der Tat getrieben, er kann sie in einer Art Umnachtung begangen haben, in der er sein Tun nicht mehr beurteilen konnte.«
Claire erblaÃte. Daburons Worte schienen doch erste Zweifel in ihr aufsteigen zu lassen.
»Sollte er denn wirklich geistig gestört gewesen sein?« fragte sie mehr sich als den Untersuchungsrichter. »Möglich wäre es. Vieles aber läÃt den Schluà zu, daà er nach einem ausgeklügelten Plan vorgegangen ist. Seien Sie jedenfalls nicht zu vertrauensselig, und hören Sie auf mich, auf einen Freund, von dem Sie einmal gesagt haben, Sie schätzten seinen Rat wie den eines Vaters. Weisen Sie ihn jetzt nicht zurück. Verlieren Sie nicht den Kopf. Und beherrschen Sie Ihren Schmerz, damit Sie später nicht bedauern müssen, daà Sie ihn gezeigt haben. Sie haben Ihre Liebe einem Unwürdigen geschenkt.«
»Sie sprechen wie alle diese Anständigen in dieser unanständigen Welt, die ich aus tiefstem Herzen verachte.«
Daburon hielt es für seine Pflicht, das Mädchen vollends zu desillusionieren, und fuhr fort: »Die erste groÃe Enttäuschung ist schwer zu
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