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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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wahr?« sagte sie mit leiser Stimme.
    Daburon war zu verwirrt, um ihre dargebotene Hand zu ergreifen. Er streifte nur ihre Fingerspitzen. »Claire«, antwortete er eher schüchtern als reserviert, »Sie konnten immer auf mich rechnen.«
    Dann setzte sie sich auf denselben Stuhl, auf dem Tabaret gesessen und Daburon überredet hatte, Albert zu verhaften.
    Â»Sie wissen, was mich zu Ihnen führt?«
    Daburon nickte nur.
    Er fragte sich, ob er den Bitten des Mädchens widerstehen könnte, ob er es über sich brächte, sich Claire gegenüber ablehnend zu verhalten. Fast wünschte er, sie hätte nie den Entschluß gefaßt, zu ihm zu kommen; dann aber stand er auch wieder im Bann ihrer Persönlichkeit und war für ihr Erscheinen dankbar.
    Â»Bis gestern hat man das schreckliche Vorkommnis vor mir geheimgehalten. Mademoiselle Schmidt, meine Gesellschafterin, hat es mir gesagt, gegen den Willen meiner Tante. Ich glaubte, alles sei verloren, und schöpfte erst wieder Hoffnung, als ich erfuhr, Sie leiteten die Untersuchung. Ich weiß, daß Sie das nur um meinetwillen tun, wirklich, Sie sind ein edler Mensch! Wie soll ich Ihnen jemals danken?«
    Die naive und herzliche Art, in der Claire diese Worte vortrug, verwirrten Daburon und ließen Scham in ihm aufkommen. Wenn Sie nur wüßte, in welchem Zusammenhang er an sie gedacht hatte ... Er senkte den Kopf, um ihrem Blick auszuweichen.
    Â»Sie haben mir nicht zu danken«, sagte er barsch. »Mich haben nicht die Motive geleitet, die Sie vermuten.« Claire mißdeutete Daburons Haltung, nahm an, seine Verwirrung sei nur auf ihre Anwesenheit und seine noch immer nicht erloschene Liebe zu ihr zurückzuführen, und so fuhr sie fort: »Lassen Sie mich Ihnen trotzdem danken. Wäre ein anderer Richter an Ihrer Stelle, ich hätte nie gewagt, ihn aufzusuchen. Für ihn wäre ich eine völlig Unbekannte gewesen, und was hätte ich da ausrichten sollen? Sie dagegen können mich beruhigen, werden mir erklären, welches Unglück ihn ins Gefängnis gebracht hat.«
    Eine solche Wendung hatte Daburon befürchtet. Unwillkürlich machte er eine abwehrende Bewegung, die Claire aber nicht zu deuten wußte.
    Â»Sie sind mein Freund – das haben Sie mir versichert. Und Sie werden für meine Bitten nicht taub sein. Lassen Sie ihn frei; denn wessen er auch angeklagt sein mag, ich weiß, daß er unschuldig ist.«
    Aus ihren Worten klang die naive Überzeugung, daß man ihren Wunsch natürlich sofort erfülle. Ein Wort von Daburon, glaubte sie, könne alles wenden. Betreten und ein wenig verwundert schwieg der Untersuchungsrichter. Konnte ein Mensch so arglos sein, daß er nicht den geringsten Zweifel in sich aufkommen ließ? Er fürchtete sich davor, ihr die Wahrheit zu sagen und ihr jede Hoffnung zu nehmen. »Was wäre, wenn ich Ihnen aber mitteilen müßte.« begann er tastend, »daß Albert de Commarin nicht unschuldig ist?« Als sie diese Andeutung schon mit einer Geste beantwortete, in der Erschrecken wie Empörung lagen, fiel es ihm schwer, fortzufahren. Doch zwang er sich zu den Worten: »Ja, wenn ich Ihnen erklären müßte, daß er schuldig ist?«
    Â»Aber das können Sie doch nicht glauben!«
    Â»Leider doch, Mademoiselle«, sagte er, und er fügte hinzu: »Ich bin sogar überzeugt davon.«
    Claire blickte auf Daburon wie auf einen fremden Menschen. War das der Mann, den sie kannte? Hatte sie sich verhört? Oder sprach er nicht im Ernst? Fast zweifelte sie daran, dachte, er erlaube sich einen grausamen Scherz mit ihr.
    Â»Ich leide mit Ihnen, Mademoiselle«, sagte Daburon leise und ohne sie anzublicken, »aber ich muß Ihnen die ganze Wahrheit sagen, und Sie müssen mich anhören. Glauben Sie mir, es ist besser, Sie erfahren alles aus dem Mund eines Freundes. Und seien Sie stark. Ein Irrtum ist nicht möglich. Es steht fest, es ist bewiesen, daß der junge Graf de Commarin einen Mord begangen hat.«
    Wie ein Arzt, der eine gefährliche Medizin verabreicht hat, beobachtete er besorgt die Wirkung seiner Worte, und er war bereit, seine Rede zu unterbrechen, sobald sich zeigen sollte, daß Claire, dieses schüchterne, gefühlvolle Mädchen, die ganze Wahrheit nicht ertragen könnte. Mußte man bei ihr nicht mit allem rechnen, mit Verzweiflungsausbrüchen, Tränen, vielleicht sogar mit einer

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