Der Fall Maurizius
»Na ja, ich dachte eben, weil in dem Fall nicht Sie der Benachteiligte waren«, warf Etzel unerschrocken ein, »in dem Fall haben doch Sie auf der ganzen Linie gesiegt.« Warschauer, etwas geduckt stehend, machte ein Gesicht wie ein wiederkäuender Stier, bedächtig und störrisch. »Woraus schließen Sie das?« fragte er. – »Aus Verschiedenem.« – »Zum Beispiel?« – »Zum Beispiel daraus, daß die Fräulein Jahn noch zwei Jahre nachher oder ich weiß nicht wie lang bei Ihnen . . . oder mit Ihnen gewesen ist . . .« – Warschauer zog die Brauen zusammen, als rechne er nach. »Zwei Jahre? Nein. Sie irren. Es war nicht einmal ein einziges. Warten Sie . . . von Anfang neunzehnhundertsieben bis zum November.« Die Berichtigung geschah in einem Ton von Freundlichkeit, der Etzel auf der Hut zu sein mahnte. Doch er achtete keiner Gefahr mehr, wie in einem Rausch ließ er sich von einer Verwegenheit zur andern fortreißen. Jetzt ist schon alles egal, dachte er und antwortete frech: »Ja, aber von dort, wo sie mit Ihnen war, ist sie meines Wissens erst viel später zurückgekommen, und von dem ganzen Geld, das sie von ihrer Schwester geerbt hatte, war nichts mehr übrig. Bettelarm war sie. Das weiß ich zufällig genau«, log er unverschämt, »denn die Dame, die sie in ihrem entsetzlichen Zustand aufgenommen hat, die kenn ich. Also hab ich doch recht, wenn ich behaupte, daß Sie in dem Fall den Leonhart Maurizius gründlich untergekriegt haben. Er hat gar nichts erreicht, und Sie haben sich mit der Beute aus dem Staub gemacht.«
Die Wirkung dieser frechen Attacke auf Warschauer war sehr sonderbar. Erst schien es, als wolle er auffahren, die Lehmfarbe seines Gesichts zeigte blaugraue Tinten, in der Mitte der Stirn trat ein rötlicher Fleck hervor, und das Eigentümlichste war, daß die Spitzen der Ohren zitterten (die Ohren waren nämlich oben nicht rund, sondern ein wenig zugespitzt wie bei antiken Faunsköpfen). Zum zweiten Mal, seit ihn Etzel kannte, nahm er die Brille ab, zum zweiten Mal sah dieser die wasserblassen lichtlosen Augen. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust (Etzel dachte gespannt: Was wird er jetzt tun, der Alte, für ihn war Warschauer mit seinen sieben- oder achtundvierzig Jahren ein Greis, doch nie zuvor hatte er den Eindruck von »Altsein« so stark gehabt wie in diesen furchtbaren zehn bis zwölf Sekunden), der Mund öffnete sich, klappte wieder zu, er ließ die wasserblassen Augen rundherum schweifen, fast so, als suche er einen Gegenstand, mit dem er zuschlagen konnte, dann wurden, ganz unerwarteterweise, die Züge schlaff. Er ging ein paar Schritte auf Etzel zu, blieb stehen, schüttelte gleichsam fassungslos den Kopf, ließ sich auf seinen Schreibstuhl fallen und versank in tiefes Sinnen. So verflossen ungefähr fünf Minuten. »Kommen Sie mal her, Mohl«, sagte er plötzlich leise. Etzel gehorchte stumm. Warschauer setzte die Brille wieder auf, griff nach den beiden Händen des Knaben und hielt sie fest. »Als ich noch Student war«, begann er mit lugubrem Lächeln, »hatte ich einen jungen Grafen Rochow zum Abiturium vorzubereiten. Eines Tages forderte ich ihn auf, mir zu erzählen, was ihm von der griechischen Helena bekannt sei. Er sagte, ich entsinne mich fast noch jedes Wortes, weil es so ein beispielloser Mischmasch von allen möglichen, zusammengelesenen Varianten war: Helena, die Tochter der Nemesis und des Zeus, hatte zuerst ein Liebesabenteuer mit einem Schwan, heiratete den Menelaos, wurde von Paris geraubt, ging nach der Eroberung von Troja mit ihm nach Ägypten, wo sich herausstellte, daß sie die falsche Helena war, die echte war bei Achilles geblieben, sie wurde von Orest und Pylades überfallen, aber von Apollon gerettet. Was sagen Sie zu diesem gräflich Rochowschen Salat? Ich habe selten so gelacht. So geht's mit allem ad-hoc-Wissen, junger Freund, es kommt eine Helena zum Vorschein, daß Gott erbarm, Tochter der Nemesis und Leda zugleich. Menschengeschichte, mein Kind, wenn man sich da verlassen will, das ist, wie wenn man in einem glühenden Krater nach Fischen angelt. Wer sich ernsthaft damit beschäftigt, wird höchstens etwas von der Natur des Feuers und der Lava erfahren, Fische wird er nicht fangen. Zuvörderst lernen Sie eins: Es ist immer alles anders. Es ist dem noch mysteriös, der's lebt, wie dürfte der sich anmaßen und sagen: Es war so oder so, der nur davon weiß. Aber ich will nicht zu scharf mit dir ins Gericht gehen, Jungchen, du tust mir leid.« Er
Weitere Kostenlose Bücher