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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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ihm, als ginge er durch das Innere einer gewaltigen Muschel, deren Brausen sein Ohr peinigte. Die Hallen und Stiegen waren schon verödet, aber die Luft zitterte von verklungenen Schritten und verklungenen Worten. Hinter den Mauern saßen die Schreiber, über Akten und Erlässen gebeugt, und schrieben. Mit ihren Federn griffen sie in die Menschenschicksale ein, doch ihre Mienen waren so gleichmütig, als hätten sie bloß den Befehl, ein bestimmtes Quantum Tinte auf eine bestimmte Menge Papier zu übertragen. Türen schlugen zu, elektrische Glocken schrillten, schnarrende Stimmen diktierten in Maschinen oder schrien in Telephone. Klagen wurden vorgebracht, Eide geschworen, Verdikte gefällt, Gesetze ausgelegt. Es ist ein gegliedertes Wesen, worin alle gehorsam und pflichtbewußt wirken: die Referendare, Assessoren, Staatsanwälte, Advokaten, Kammerräte, Archivare, Sekretäre, Rendanten und Richter, eine ehrwürdige Hierarchie, deren Gipfel und obersten Geist sie nur erschauernd ahnen können. Doch ahnen sie ihn, wissen sie ihn, drinnen in der Muschel? Erschauern sie denn davor? Das ist die Frage. Die Muschel scheint allerdings den Ozean zu enthalten, wenn man in sie hineinhorcht, aber sie täuscht seinen ewigen Orgelgesang nur vor, und sie braust, weil sie hohl ist.
    Zweiter Teil

Zwischenreich
    Achtes Kapitel
    1

    Verfolgung während der Fahrt hatte Etzel nicht zu befürchten. Er wußte, daß der Vater erst am Donnerstag von seiner Dienstreise zurückkehrte, bis dahin war er in Berlin. Die Frage war nur: was dann? wo Unterschlupf finden? wo sich verbergen? Daß die Bitte, die er in dem Abschiedsbrief an den Vater gerichtet, er möge ihm nicht nachstellen lassen, unerfüllt bleiben würde, darüber gab er sich keiner Täuschung hin. Er mußte aber den Rücken frei haben und sich nach Erfordernis bewegen können, sonst taugte die ganze Geschichte nichts. In jedem Gasthaus, in jeder Pension, in jeder Herberge mußte er polizeilich gemeldet werden. Es unter falschem Namen zu tun, würde vermutlich wenig Erfolg haben, da sie doch, wenn sie ihn suchten, seine Personbeschreibung hatten und in diesen Dingen gewitzt waren. Bekannte hatte er dort nicht, keine Menschenseele, an die er sich wenden konnte, außer vielleicht, ach, vielleicht (ein ängstlicher Seufzer begleitete den Gedanken) Melchior Ghisels. Allein, es war ohne weiteres anzunehmen, daß ein Melchior Ghisels sich um so niedrige Angelegenheiten nicht kümmern konnte, falls er sich um einen Etzel Andergast überhaupt zu kümmern geneigt war. Wohin also? Es war eine große Sorge.
    Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Während er aufrecht in der Ecke des Abteils saß und die mit jeder ablaufenden Stunde ihn unüberwindlicher dünkende Schwierigkeit erwog, fiel sein Blick auf eine fünfundvierzig- bis fünfzigjährige Frau, die den Platz ihm gegenüber innehatte und ihn schon seit einiger Zeit mit einer Art von Spott betrachtete. In seine Überlegungen vertieft, hatte er den Mitreisenden wenig Aufmerksamkeit geschenkt, der Wagen war ziemlich voll, allerlei Bürgersleute waren unterwegs, Kleingewerbetreibende, Handlungsreisende, Frauen, Kinder, junge Mädchen; erst von Kassel ab leerten sich die Bänke, und bis Hannover stiegen wenig neue Passagiere ein. Die Frau aber blieb und fing alsbald ein Gespräch mit ihm an. Sie war ungebildet, schwatzhaft und ziemlich gutmütig, daneben war ein Zug, den er bei Kleinbürgerinnen oft wahrgenommen, etwas Abgerackertes, Zerriebenes, etwas im Gesicht, das ihn an die Pferde erinnerte, die manchmal in den Straßen niederstürzen und dann mit einem störrisch-fragenden Jammer in den Augen auf dem Pflaster liegen. Nach den ersten paar Worten schon wußte er ihren Namen, auch Familienverhältnisse und Vermögensumstände blieben ihm nicht lange verborgen. Sie hieß Schneevogt, ihr Mann war Buchhalter in einem Warenhaus, ihre neunzehnjährige Tochter Melitta ging ebenfalls ins Geschäft, die Wohnung lag in der Anklamer Straße im Berliner Norden, drei Zimmer und zwei Kammern, welch letztere sie an Herren vermietete. Sie erzählte, sie komme aus Mannheim, wo sie ihren Bruder begraben habe, einzigen Bruder, der es auch zu etwas gebracht habe im Leben, Buchbinder sei er gewesen, außerdem Schachmeister und Schriftführer bei der Liedertafel; als sie hingefahren, habe sie gehofft, etwas zu erben, eine Kleinigkeit wenigstens, die Hoffnung sei zu Wasser geworden, es sei nicht das Schwarze unterm Nagel da, schundiges Mobiliar und Schulden. Es sei so

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