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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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Aschenbechern herumschnüffelt oder die Listen der Sportvereine überprüft. Nein, er hält sich vielmehr an das große Buch der Regeln und Gesetze, die das Funktionieren und die Sicherheit der Aufzugkabinen garantieren sollen.
    Je mehr ich über diese Maschinen recherchiere, je mehr ich über das Thema erfahre, desto klarer tritt zutage, dass dieser Unfall sich nie hätte ereignen dürfen.
    In technischer Hinsicht ist er undenkbar. Normalerweise ist ein Kabel mit einem Messgerät verbunden, das ein zweitesSicherheitssystem auslöst, sobald der Fahrkorb die erlaubte Höchstgeschwindigkeit um fünfundzwanzig Prozent überschreitet. In dem Fall wird eine Bremsautomatik ausgelöst, Backen umgreifen die Aufzugsführungsschienen, und der Fahrkorb kommt nach wenigen Metern zum Stehen.
    Unser Absturz entspricht einer statistischen Abnormität. So geht aus der Untersuchung des New Yorker hervor, dass die achtundfünfzigtausend Fahrstühle, die es allein in New York gibt, jedes Jahr elf Milliarden Mal hoch- und runterfahren, also dreißig Millionen Mal am Tag. Bei diesen Fahrten werden pro Jahr nur etwa vierundzwanzig Personen verletzt. Die Firma Otis hat ausgerechnet, dass ihre Fahrstühle alle fünf Tage weltweit genauso viele Personen transportieren, wie es Menschen auf diesem Planeten gibt – ohne dabei nennenswerte Unfälle zu verzeichnen. Davon abgesehen gilt, dass die große Mehrzahl der Leute, die in Aufzügen zu Tode kommen, Angestellte der Wartungsfirmen sind. Kein anderes Transportmittel der Welt kann solche Statistiken vorweisen und verfügt über eine so hohe Zuverlässigkeit.
    Und doch ist am 4. Januar 2011 Marie gestorben. Und mit ihr Andrea Teasdale, Bassim Assah-Tyhiany und Serge Paquette.
    Ich habe einen Zeitungsartikel aus einem kanadischen Archiv in mein kleines Notizheft gelegt. Er ist vom 10. Januar, also einem Tag, an dem ich noch im Koma lag. Darin steht: »Seit dem 1. Januar sind unter Tieren viele plötzliche Todesfälle aufgetreten. Nach hunderttausend leblos in einem Fluss treibenden Fischen, fünfhunderttausend Vögeln, die in Arkansas vom Himmel fielen, und Tausenden weiterer Fälle in Louisiana, Schweden und Japan, hat man am 7. Januar in derChesapeakebucht im Staat Maryland nahezu zwei Millionen tote Fische entdeckt. Und am selben Tag wurden vierzigtausend leblose Krebse an einen britischen Strand geschwemmt.«
    Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass so viele Tiere in so kurzer Zeit starben? Wie hoch lag das Risiko, dass eine frisch gewartete Fahrstuhlkabine der Marke Woodcock sich aus der Verankerung der Welt löste und uns lebendig begrub?
    Es hätte nicht passieren dürfen, und doch ist es passiert.

DREI
    Heute bin ich zur Avenue de Lorimier, dem Sitz der SAQ, gegangen, um einige persönliche Dinge abzuholen und den Leuten Guten Tag zu sagen, mit denen ich in den letzten Jahren zusammengearbeitet habe. Mir ist aufgefallen, dass ich seit der Entlassung aus dem Krankenhaus unter Störungen leide, die mir bis dahin unbekannt waren. Es fällt mir schwer, mich in großen Gebäuden aufzuhalten. Dann überkommen mich Angstzustände. Ebenso wenn ich mit mehr als drei oder vier Personen in einem Raum stehe. Sobald man auf mich zukommt, neige ich dazu, einen Schritt nach hinten zu machen und zurückzuweichen, wie eine Schnecke, die ihre Fühler einzieht. Hingegen habe ich beim Betreten eines Fahrstuhls nicht die geringste Furcht, ganz gleich um welches Baujahr es sich handelt. Ich lasse mich befördern, ohne auch nur einen müden Gedanken an die Wartungsabstände oder die erlaubte Maximallast zu verschwenden.
    Mein unangekündigter Besuch verlief eher gut. Ich wurde mit der üblichen Ehrerbietung und Sanftmut behandelt, die man einem Genesenden entgegenbringt. Der Leiter der Einkaufsabteilung empfing mich in seinem Büro und versuchte mich auf äußerst liebenswürdige Weise von meiner Kündigung abzubringen. Seine Vorschläge klangen sehr freundlich,doch ahnte ich, dass die Adresse meines Nachfolgers bereits auf der Mitarbeiterliste des Unternehmens stand.
    »Das tut mir alles furchtbar leid, glauben Sie mir. Wir waren mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden. Es wird schwer werden, einen Ersatz für Sie zu finden.«
    »Haben Sie schon jemanden gefunden?«
    Meine Frage war spielerisch und spöttisch zugleich. Doch bevor die Antwort kam, drehten die Synapsen meines Gesprächspartners ein paar Pirouetten – er schluckte und erwiderte schließlich:
    »Wir haben jemanden im Auge.«
    In dem Moment kamen

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