Der Fall Sneijder
bewusst.Während wir im kalten Wohnzimmerlicht saßen, in das sich nur die wärmeren Reflexe des Parkettbodens mischten, entspann sich zwischen uns ein Gespräch, das frei zu sein schien von allen Hintergedanken – einen solchen Austausch würden wir gewiss nie wieder haben, falls unsere nächsten Begegnungen in einem Gerichtssaal stattfänden, wo wir gegensätzliche Standpunkte und Interessen verträten.
»Sie haben sich auf Unfälle mit Personenaufzügen spezialisiert?«
»Das war mehr oder weniger Zufall. Sie wissen ja, wie das so ist, eines Tages bekommt man den Fall eines Aufzugstechnikers auf den Tisch, und schon gilt man auf dem Gebiet als Fachmann. Es handelt sich dabei um einen hochspezialisierten und -technisierten Bereich. Nur wenige wagen sich auf dieses Gebiet vor, denn jeder Prozess ist einzigartig und erfordert eine lange Vorbereitung.«
»Für welche Unternehmen haben Sie bisher gearbeitet?«
»So ziemlich für alle, bis auf zwei asiatische. Meine regelmäßigen Kunden sind Otis und Kone. Ich habe auch schon Schindler bei einem Patentproblem beraten und Thyssen-Krupp wegen einer Verleumdungsklage verteidigt.«
»Also die größten Gesellschaften.«
»Kennen Sie sich auf dem Gebiet aus?«
»Nun, ich lerne dazu. Abend für Abend. Ich lese eine Menge Artikel und Fachpublikationen zu dem Thema.«
»Wäre es indiskret von mir, Sie zu fragen, welche?«
»Kürzlich habe ich mir die letzten zehn Nummern von Elevator World bestellt, die angeblich die führende Zeitschrift auf dem Gebiet ist. Dann bin ich gerade mit einem 2008 im New Yorker erschienenen Artikel fertig geworden, der sehrgut recherchiert ist, sein Titel lautet ›Up and Then Down‹. Und ich habe den Roman L’Intuitionniste gelesen, der in der Welt der Aufzugreparateure spielt, aber viel gelernt habe ich dabei nicht.«
»Ich weiß nicht, wonach Sie in den Texten suchen, und es geht mich auch nichts an, aber Ihre Auswahl ist ausgezeichnet. Erlauben Sie mir jedoch, Ihnen ein weiteres Werk zu empfehlen, das in diesem Industriezweig gewissermaßen als Bibel gilt, The Vertical Transportation Handbook . Darin wird etwas ganz Grundlegendes erklärt. Man darf nie die Tatsache aus dem Auge verlieren, dass man nicht einen Aufzug in einem Hochhaus baut, sondern ein Hochhaus um einen Aufzug. Er ist das Kernstück. Er wird Ihr Leben vereinfachen oder zur Hölle machen.«
Wagner-Leblond war ein charmanter Gesprächspartner voll Überraschungen. Er erwies sich als großer Gartenliebhaber und als ausgezeichneter Kenner der Arbeiten des großen japanischen Landschaftsarchitekten Nakajima, der den Botanischen Garten gestaltet hatte. In Cowra, Neusüdwales, hatte er ein fünf Hektar großes, von der Edo-Zeit inspiriertes Landschaftsarrangement besucht, das mit seiner anmutigen Anordnung die ganze Vielfalt der japanischen Gärten in sich vereinen sollte. Als das Tageslicht allmählich abnahm, verabschiedete er sich. An der Tür, wo mir ein kalter Luftzug um den Nacken wehte, reichte er mir die Hand und sagte: »Ich habe einen sehr angenehmen Moment verbracht, Monsieur Sneijder. Ich hoffe aufrichtig, dass wir uns einig werden.«
Es gab keinen Zweifel daran, dass dieser Mann, den ich noch immer für teilweise ehrlich hielt, das Talent hatte, seineWirkung genau zu dosieren. Er verstand es, mit Leuten zu reden, denen schreckliches Leid widerfahren war. Die richtigen Worte zu wählen, einfache, wirkungsvolle Worte, wobei er immer die richtige Distanz wahrte. Im Englischen nennt man diese Männer »Adjuster«. Ihre Aufgabe besteht darin, die Gefühle zu spanen, den Groll zu glätten und in zumutbaren Grenzen antagonistische Welten einander anzunähern und aufeinander abzustimmen. Während eines Prozesses werden solche »Adjuster« manchmal von Versicherern engagiert, um den Preis für einen Toten, seinen Gegenstandswert zu ermitteln. Und zwar in Abhängigkeit einer Vielzahl von Parametern wie den Todesumständen, der Tätigkeit, der gesellschaftlichen Stellung, des Alters, des Familienstands, des Lebensstils, des Gesundheitszustands, des Rufs, des Geselligkeitsgrades, der sportlichen Aktivitäten oder im Gegenteil des Zigarettenkonsums. All diese Parameter werden anschließend als X- und Y-Koordinaten aufs Papier geworfen, sodass man am Ende auf der Grafik nur noch die Summe abzulesen braucht, die die Versicherungsgesellschaft auf dem Scheck eintragen muss.
Wagner-Leblond ist, so denke ich zumindest, nicht der Typ, der die Taschen von Toten durchwühlt, in
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