Der Fall Sneijder
Architektur. Alles liegt vor Ihnen, jede Seite ist ein neues Kapitel in dem großen Buch der Kniffe, Tricks und Täuschungen. Soll ich Ihnen etwas erzählen? Seit 1990 haben die Fahrstuhlknöpfe, mit denen wir angeblich die Türen bedienen, nicht mehr die geringste Auswirkung auf das Öffnen und Schließen. Gar keine mehr. Doch werden alle Kabinen,selbst die modernsten, weiterhin mit diesem Accessoire ausgestattet. Sogar die kleine leuchtende Lampe im Knopf wurde beibehalten. Und wissen Sie, warum? Weil die Psychologen gemerkt haben, dass die automatisierten Aufzüge mit ihren engen, geschlossenen Kabinen beunruhigend wirken. Sie haben gemerkt, dass die Leute den Eindruck hatten, ihnen sei jede Entscheidungsmöglichkeit genommen, sie könnten keinen Einfluss mehr auf die Maschine nehmen. Also hat man ihnen den kleinen Knopf gelassen. Aber dahinter ist nichts. Die Türen öffnen und schließen selbsttätig, je nachdem wie die Software programmiert ist. Unabhängig von dem nervösen Druck unseres Zeigefingers. Manchmal stimmt der Moment des Drückens zufällig mit dem Rhythmus des elektronischen Programms überein. Dann geschieht ein kleines Wunder, die Türen schließen sich, und wir sind zutiefst überzeugt, die Maschine bedient zu haben, sie zu beherrschen. Und der Glaube an unsere Freiheit, an unsere Macht, wird dadurch gestärkt. Libido imperandi , da Latein Ihnen Vergnügen bereitet. Die Leidenschaft des Herrschens . Nun sollten wir uns die Frage stellen, was wir in unserem Leben anderes tun, als würdevoll und mit Nachdruck auf eine unendliche Zahl von Knöpfen drücken, die uns gehorchen sollen, obwohl wir wie ahnungslose Kinder lediglich auf Attrappen einhämmern? Wie bei den Aufzügen ist letztlich der Zufall dafür verantwortlich, dass unsere Wünsche gelegentlich mit einer ganzen Armada von Täuschungen synchronisiert werden. Die Türen öffnen sich, und das Wunder geschieht. Während wir nach oben fahren, verlieben wir uns, glauben an fürsorgliche Götter, an ewige Wünsche und sogar an zehnjährige Garantien. Unser Leben und die Fahrstühle haben diese Erbsündegemeinsam, diese kleine Tag und Nacht erleuchtete Lüge, auf der ein unfassbarer Vertrauenspakt aufbaut. Seitdem ich dies erfahren habe, seitdem ich weiß, dass hinter diesem Lämpchen nur Dunkelheit und ein tiefer Abgrund liegen, füge ich den Gutachten, die mir nach einem Unfall anvertraut werden, immer die gleiche handschriftliche Notiz hinzu: »Störung des Knopfes, mit dem das Öffnen und Schließen der Türen betätigt wird.«
Wagner-Leblond führte mich in die Funktionsweise der Welt ein, indem er die Familien- und Fabrikationsgeheimnisse lüftete. In diesem schalldicht geschlossenen Raum, der geschützt war vor dem Lärm der Welt, verzehrte ich mich förmlich danach zu lernen und zu begreifen.
Im Laufe dieser Gespräche verschwanden übrigens meine Ekzeme. Gewiss, die roten Flecken waren noch da, die Haut blieb gereizt, aber ich verspürte keinerlei Juckreiz mehr, kein Bedürfnis, mich zu kratzen. Die Worte meines Gastgebers wirkten auf mich wie ein lindernder Balsam, mit einer viel stärkeren Wirkung als das Kortison.
Bei meiner Rückkehr unterhielt ich mich kurz mit Anna über ihren Wagen, dessen Getriebe anscheinend erste Verschleißspuren zeigte. Wir tauschen uns nur noch über belanglose, banale Dinge aus, und doch stellte ich beim Hinaufgehen in mein Arbeitszimmer fest, dass ich mich wieder kratzte. Meine Handgelenke und mein Hals waren feuerrot.
Ich aß eilig zu Abend und ging anschließend wieder zu meiner Tochter ins obere Stockwerk. Am liebsten hätte ich das große Buch der Illusionen aufgeschlagen und ihr die Geschichte von den Geisterknöpfen und den täuschend echten Neuticles-Hoden erzählt, die dem Tier nach der Kastrationvorgaukelten, alles »sähe so aus und fühlte sich so an wie vorher.« Letztlich waren diese Harzkugeln nichts weiter als die urologische Variante der von Per Invar Branemärk ausgetüftelten »Implantologie«.
Nachdem ich die Urne in die Mitte des Schreibtischs gestellt hatte, öffnete ich eine Mappe, die mir Wagner-Leblond vor dem Abschied übergeben hatte. »Es sind nur ein paar Presseartikel«, hatte er mir erklärt. »Aber ich glaube, es sind ein oder zwei darunter, die Sie interessieren dürften.«
Bei den Artikeln handelte es sich ausschließlich um Reportagen über die höchsten Wohnhäuser der Welt. So erfuhr ich, dass der Taipei 101 in Taiwan mit seinen fünfhundertacht Metern Höhe bis
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