Der Fall Sneijder
vor kurzem das höchste Gebäude der Welt gewesen war. Es war mit fünfundfünfzig Fahrstuhlkabinen ausgestattet, die für einen Druckausgleich sorgten, damit die Fahrgäste die Geschwindigkeit von knapp siebzehn Metern pro Sekunde aushielten. Man fuhr die neunundachtzig Stockwerke des Turms in siebenundzwanzig Sekunden hoch oder runter. All diese Fakten wurden wie Trophäen aufgezählt, nur dass man sich fragte, welche Errungenschaft eigentlich ausgezeichnet wurde. Denn die Frage, die man sich am Ende unweigerlich stellte, war ganz einfach: Warum sollte man ein Wohnhaus in dieser Geschwindigkeit hinauf- und hinunterfahren? Ergab dies irgendeinen Sinn? Obwohl wir unsere Lebenszeit meist mit unnützen Dingen vergeuden, werden wir im Fahrstuhl plötzlich zu regelrechten Geizhälsen. Was war nur so bemerkenswert an ein paar gewonnenen Sekunden bei einer Blitzfahrt zu schwindelerregend hohem Preis?
Eine interessante Fußnote erklärte, dass die Planung, Ausarbeitung und Umsetzung dieser unfassbaren Kolosse in derHand nur weniger Menschen lag, einer Oligarchie, die mit ihren gigantomanen Projekten eine vertikale Welt mit einer eigenen Logik, eigenen Algorithmen, systemischen Gesetzen und Fabrikationsgeheimnissen errichtete. Man nannte sie die Auserwählten, die »Hundertundmehr«. Ganz einfach, weil sie die Einzigen waren, die wussten, was sich oberhalb des hundertsten Stockwerks abspielte, wie die Fahrstühle in dieser Höhe überlebten. Sie waren die Berater, Experten und Analysten dieser künstlichen Berge. Die Aufgabe dieser Eingeweihten war es, neue Wege zu erschließen, damit andere – einfache Reisende – sie anschließend in aller Unschuld und mit ihren einfachen Straßenschuhen täglich benutzen konnten. Diese Spezialisten, die von Architekten beraten und von Herstellern angehört wurden, brachen, nachdem sie die Größe und Rotationsgeschwindigkeit der Maschinen festgelegt und das beste Schema zur Regulierung der Personenbeförderung ausgearbeitet hatten, zu noch unbewohnten Rohbauten anderer Hochhäuser auf, die auf neue, von den »Hundertundmehr« entworfene und gezeichnete Aufzugsräder warteten.
Seit 2010 hatte Taipei 101 seine Vorherrschaft verloren. Das neue Alphagebäude, das dominierende Männchen, war inzwischen das Burj Khalifa in Dubai. Achthundertachtundzwanzig Meter. Hundertsechzig bewohnbare Stockwerke sowie sechsundvierzig weitere für die Maschinenräume und die Wartung. Anderthalb Milliarden Dollar.
Das Geschäft mit den Aufzügen war an die Otis Elevator Company gegangen, die mit Global Tardif kooperierte. Siebenundfünfzig Kabinen, von denen die meisten doppelstöckig waren, verbanden das Erdgeschoss mit der Spitze in wenigerals einer Minute. Eine einmalige Erfahrung, verhieß die Werbebroschüre. Eine gigantische Kabine. Die Türen schlossen sich, und gleichzeitig gingen die Lichter aus. Beim Start wurden in der dunklen Atmosphäre dieser interplanetaren Diskothek Bilder auf große Plasmabildschirme projiziert, die bis zur Decke reichten, während zugleich synthetische Klänge aus Lautsprechern ertönten. Die Musik wurde während der Auffahrt immer schneller, bis man hundertsechzig Etagen höher den Gipfel erreicht hatte, achthundertachtundzwanzig Meter über der Finsternis. In diesen Höhen explodierten die Kantaten, das Licht flutete von der Decke, und auf den Bildschirmen erschien ein kindisches »At the top!«.
Zerstreut schweifte mein Blick über die Berichte, die Wagner-Leblond mir mitgegeben hatte, als meine Aufmerksamkeit auf ein gelb markiertes Dokument gelenkt wurde. Es war ein Presseartikel, der am 11. Februar 2010 im Figaro erschienen war und dessen Titel lautete: »Touristen in 828 Metern Höhe in Dubai eingeschlossen.« Die Fortsetzung des Textes versetzte mich mit einem Schlag in die ersten Tage des Jahres zurück, als alles für mich zusammenbrach und ich kurz darauf die Türen zum Koma aufstieß:
»Nur einen Monat nach seiner feierlichen Einweihung ist der höchste Wolkenkratzer der Welt in Dubai bereits wieder für die Öffentlichkeit gesperrt. Vergangenen Samstag hatte ein Fahrstuhl, nachdem er die im 124. Stockwerk des Gebäudes befindliche Aussichtsplattform verlassen hatte, plötzlich eine Panne. Es folgte eine sehr abrupte Bremsung, denn die Aufzüge von Burj Khalifa sind die schnellsten der Welt und befördern ihre Fahrgäste mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h in fast völliger Dunkelheit. Die Touristen, die sichauf der Aussichtsplattform befanden, vernahmen
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