Der Fall Struensee
Lederpolster, die uns begleitenden Dragoner, das Flüstern der beiden Kutscher und vor allem das finstere breite Gesicht Reventlows.
Ich überlegte, ob ich nicht aus der Kutsche springen sollte. Aber dazu fehlte mir der Mut. So saß ich schaudernd mit eiskaltem Rücken und schweißigen Händen da und vermochte mich nicht zu rühren. Ich stellte mir vor, dass die Dragoner mich in einer abgelegenen Gegend erschießen und verscharren würden, als der Wagen vor einem Palais anhielt. Musik erklang und der Schein unzähliger Kerzen leuchtete aus den Fenstern.
‚Vorwärt s′ , rief Reventlow nun und stieß mich in die Seite, ‚wir sind da, wir sind zum Ball beim Grafen Moltke eingeladen .′ Obwohl ich eigentlich hätte erleichtert sein müssen, zitterte ich am ganzen Körper, als ich aus der Kutsche stieg. Und nun sollte ich auf einmal unbefangene Konversation machen. Ich stand dort in dem hellerleuchteten Saal, umgeben von festlich gekleideten Menschen und stammelte verlegen, wenn mich jemand ansprach.“
„Aber Sie hatten doch noch einen anderen Erzieher, konnte der Ihnen nicht helfen?“
„ Ja, Reverdil. Er war freundlich zu mir. Aber er besaß keine Macht. Reventlow hatte das Sagen. Außerdem kam Reverdil erst, als ich schon zehn Jahre alt war.“ Ja, Reverdil. Den hatte Struensee vor einiger Zeit gebeten, sich um den König zu kümmern. Er war auch gekommen, aber es schien auch jetzt zu spät zu sein. Brandt hatte ihm berichtet, dass der einstige Lehrer mit dem verwirrten König Schwierigkeiten hatte und keinen Zugang mehr zu ihm fand. Aber Reverdil berichtete ihm einiges aus der Kindheit Christians.
Rever dil hatte eine Stelle als Lehrer für Französisch, Geschichte und Philosophie angetreten, aber er war ein Untergebener. Er musste zusehen, wie der Junge zerbrochen und zur Willenlosigkeit erzogen wurde. Reventlow sah ihm gnadenlos auf die Finger, deshalb nutzte er Spaziergänge, um den Prinzen zu ermutigen und ihm andere Vorstellungen nahezubringen. Manchmal wurde er Zeuge der Züchtigungen des Jungen. „Sein Schreien war im ganzen Schloss zu hören und die Dienerschaft schüttelte den Kopf oder sah sich vielsagend an. Der Junge versuchte immer wieder mit weit aufgerissenen Augen und in Tränen aufgelöst im Gesicht seines Tyrannen abzulesen, was dieser hören wollte und welche Worte er verwenden sollte.
Aber es war vergeblich. Reventlow fand immer einen Grund, das Kind zu schlagen. Dabei war er ein schöner und liebenswerter Junge. Auch klug und begabt. Aber die geistigen Fähigkeiten wurden systematisch zerstört. Und man brachte ihm nichts bei, was für seine Regierung als König wichtig gewesen wäre. Er wusste nichts über die Gesetzgebung des Landes, er hatte keine Vorstellung davon, wie Beamtenschaft und Verwaltung arbeiteten, er wusste nichts über Außenpolitik oder die militärische Stärke seines Landes, nichts über die Finanzen und erst recht nichts über die Verschuldung Dänemarks.
Es konnte nicht übersehen, dass der Prinz völlig verstört war. In seinen Augen war etwas von einem gehetzten Tier, sein Körper schien immer auf dem Sprung zu sein. Er war wie eine aufgezogene Feder, die zu stark angespannt war und jederzeit zerbrechen konnte. Er sagte einmal zu mir, er arbeite daran, unverwundbar zu werden. Nur so könne er für die Misshandlungen seiner Feinde unempfindlich werden. Das war so ein Aberglaube aus dem Dreißigjährigen Krieg, der unter den Soldaten sehr verbreitet war. Sie glaubten, sich durch einen Zauber unverwundbar machen zu können.
Christian sprach auch von ‚festmache n′ oder ‚gefroren mache n′ . Letzteres klang verräterisch, denn es deutete an, dass er dabei war, innerlich zu vereisen. Gleichnis eines zerstörten Kindes. Gleichzeitig träumte er vom Theater, er bewunderte die Schauspieler und wünschte sich so wie sie zu sein. Da Reventlow das Auswendiglernen für wesentlicher hielt als Einsicht, legte er großen Wert darauf, dass der Prinz Sätze und Feststellungen auswendig lernte, genau wie bei einem Theaterstück. Christian meinte deshalb auch, dass der Hof ein Theater sei, dass er seine Rolle und seinen Text lernen müsse und dass er bestraft werde, wenn er es nicht richtig machte. Und dann sagte er auch manchmal, er habe Angst, dass man dahinter käme, dass er in Wirklichkeit ein Bauernbursche sei. Er spiele ja nur die Rolle eines Kronprinzen.
Die Spaziergänge waren die einzigen Gelegenheiten, die ich hatte, um etwas zu erklären, ohne beobachtet zu
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