Der Fall Struensee
ungewohnten Ketten den Gang entlang. Als die Zellentür sich schloss, ließ er sich erschöpft auf seiner Pritsche nieder. Die Fesseln drückten. Voller Wut und Verzweiflung dachte er daran, dass man ihm sogar einen letzten würdevollen Ausweg versperrt hatte. Köller hatte ihm seine Dose mit dem Gift, das er für alle Fälle in seiner Schreibtischschublade verwahrt hatte, weggenommen. Es war furchtbar. Er konnte nicht einschlafen, wie eine ungeheure Last lag ihm sein ganzes Leben auf dem Herzen. Doch schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Als er erwachte, war es stockfinster. Es musste draußen wohl Nacht sein. Er erhob sich schwerfällig von seinem Lager, seine Ketten klirrten. Als er zwei Schritte in seinem Kerker machte, stürzte er über den Schemel, an den er nicht gedacht hatte. Er fiel hart auf den Boden. Die Eisenfessel bissen in seine Gelenke. Ein Stück der Kette schlug ihm schmerzhaft gegen die Stirn. Schwer atmend lag er da. Die Hoffnungslosigkeit seiner Lage erdrückte ihn. Er stellte sich seinen Tod vor, die Tortur, die seine Feinde sicher für ihn geplant hatten. War es nicht besser, jetzt gleich ein Ende zu machen? Viel Schreckliches stand ihm bevor. Sein Elend überwältigte ihn mit grauenhafter Schärfe.
Er stöhnte auf, raffte die Ketten um sich empor, beugte den Kopf und lief, so rasch er konnte, gegen die Wand. Die Mauer warf ihn schmerzhaft zurück. Mit dröhnender Stirn lag er benommen und erstarrt wohl eine halbe Stunde auf dem kalten Boden. Schmerzen tosten in seinem Kopf. Aber schlimmer als das war die Angst. Sie war so unerträglich, dass er schrie. Er raffte sich auf, stemmte sich mühevoll hoch und rannte ein zweites Mal gegen die Mauer. Er stürzte in sich zusammen und wurde ohnmächtig. Als er aufwachte, flackerte Licht in der Zelle. Juel beugte sich mit einer Kerze in der Hand über ihn. Er half ihm auf und befahl ihm, sich auf die Pritsche zu legen.
„Herr Graf“, sagte er, „so geht das doch nicht! Sie können sich der Gerechtigkeit nicht entziehen. Haben Sie doch ein wenig Selbstvertrauen.“ Der Wärter wischte ihm das Blut vom Gesicht und verließ die Zelle. Struensee dachte darüber nach, ob es wohl eine Rettung geben konnte. Er begann, seine Verteidigung zu planen. Er entwarf eine Rechtfertigung, glänzend formuliert in eindringlichen Worten. Nun war er beinahe sicher, dass seine Verhaftung nur ein Irrtum gewesen war. In ein paar Tagen würde er sicher wieder freigelassen. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war eine Verbannung aus Dänemark. Dann würde er nach Frankreich gehen. Dort gehörte er hin, nicht in das abgelegene Dänemark, das seine Ideen und Reformen nicht zu würdigen wusste. Er stellte sich vor, wieder seine Tätigkeit als Arzt aufzunehmen wie in Altona.
8. Arzt in Altona
Als er mit 20 Jahren in Altona als Stadtphysikus eingestellt wurde, war ihm, als müsse er nun achtspännig der Zukunft entgegen fahren, von dem elementaren Gefühl getrieben, nicht viel Zeit zu haben. Trotz seiner Jugend war er bereits mit dem Tod in Berührung gekommen. Während eines Aufenthalts bei seinem Onkel Dr. Carl, dem Leibarzt des Fürsten von Stolberg, hatte er sich mit dem Fleckfieber infiziert. Viele Wochen sah es so aus, als würde er die Krankheit nicht überleben. Aber er wurde wieder gesund.
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern nahm er sein Amt sehr ernst. Er ging nicht in die Salons der Reichen, sondern in die Waisenhäuser und Bordelle. Er war der Armenarzt von Altona. Bereits in Halle und später in Berlin, wo er entsetzt die Heilmethoden in der dortigen Charité erlebte, hatte er Dreck und Elend kennengelernt. Und er kannte auch schon das seltsame Berufsethos seiner Kollegen, die mit zweifelhaften Mittelchen zu kurieren pflegten und vom Katheder herab medizinische Weisheiten verkündeten, ohne auch nur in die Nähe der Kranken zu kommen.
Altona, am Nordufer der Elbe gelegen, in nächster Nähe zu der blühenden Hafen-und Handelsmetropole Hamburg, war eine Stadt mit alten Giebelhäusern, engen und verwinkelten Gassen, beherrscht von biederem sittenstrengen Geist. Sie gehörte zu Dänemark und galt als ein Asyl für Menschen, die ihre Heimat wegen ihrer Überzeugung verlassen mussten. Hier lebten viele Reformierte, die aus dem spanisch besetzten Teil Hollands vor der Inquisition fliehen mussten, Quäker, Herrnhuter und auch viele Juden. Das Wappen Altonas zeigte zu Recht ein offenes Tor.
Die Kinder in den Waisenhäusern waren fast alle von der Krätze
Weitere Kostenlose Bücher