Der Fall Struensee
Tage das Kind pflegen, bis deine Mutter wieder auf den Beinen ist?“
„O ja“, sagte sie ernsthaft, „ich habe mich auch um meinen Bruder Klaas gekümmert, als Mutter krank war.“
„Wovon lebt ihr?“
„Wir sind eigentlich Bauern, aber wir können vom Ertrag des Feldes nicht leben, da die Abgaben so hoch sind. Deshalb fährt mein Vater zur See.“
„Und wer bestellt das Feld?“
„Mutter und ich. So gut wir können.“
Struensee schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Antje griff nach einem Becher, goss Rum und heißes Wasser hinein und reichte ihn dem Arzt. „Den Rum hat Vater von seiner letzten Schiffsreise mitgebracht.“ Struensee trank. Das heiße Getränk wärmte ihn wohltuend. „Vielen Dank, Antje“, sagte er. „Ich danke Ihnen. Wer weiß, vielleicht wäre Mutter gestorben, wenn Sie nicht geholfen hätten. Aber wir können nicht zahlen, ehe Vater zurückkommt.“ Ihm fiel ein, dass er in Lützelburg von der Baronin Bülow erwartet wurde.
Man würde Gans essen. Braunüberkrustete Gans, sorgsam mit Äpfeln und Rosinen gefüllt, mit großen Klößen dazu, mit Butter und gedämpften Pflaumen. Und danach einen Pudding mit Mandeln darin. Und schließlich Tanz und Spiele in einem kerzenbeleuchteten Saal. Er dachte voller Mitleid, wie wenig Antje und Klaas hatten. Er zog einige Münzen aus der Tasche und gab sie dem Mädchen. „Für dich, kleine Hausfrau. Kauf Milch und etwas Gutes zu essen. Und nun, gute Nacht.“
Antje schaute verstört auf die Münzen. Struensee ergriff seine Tasche und den Mantel und ging hinaus. Die Kinder riefen ihm nach: „Vielen Dank, lieber Herr Doktor!“
Er erinnerte sich auch an die Behandlung einer jungen Frau adliger Herkunft. Sie litt an den Folgen einer schwierigen Geburt und wollte sich nicht recht erholen. Ihr Mann und ihre Verwandten hatten Angst, dass sie die Schwindsucht habe. Als man ihn zu der Patientin führte, lag diese totenbleich von Kissen und Bettdecken fast erstickt in einem seit Monaten nicht gelüfteten Zimmer.
Als die Frau den jungen, viel gepriesenen Arzt erblickte, schien es, als kehrte das Leben in ihre Wangen zurück, nur durch seinen bloßen Anblick. Struensee setzte sich an ihr Bett, fühlte ihren Puls, horchte ihre Lunge ab, indem er ihren Rücken leicht beklopfte. Dann schüttelte er den Kopf und sah sich in der Stube um. Er ging zu den verriegelten Fenstern und stieß sie auf. Der Frühsommer flutete herein, frische Luft, Duft von Rosen, Gesang von Vögeln. Eine füllige Tante der Patientin kam angeschnauft und meinte: „Wenn das mal gut geht! Zugluft ist bekanntlich schädlich für kranke Lungen.“
„Madame hat die gesundesten Lungen von der Welt“, erwiderte der Doktor, „Was den Lungen fehlt, ist der Stoff zu atmen. Heute Nachmittag kann Madame im Liegestuhl auf der Terrasse liegen.“ Er beugte sich über die Kranke und umschloss ihre feine weiße Hand mit der seinen. „Das wird ihren Teint verderben“, seufzte die Tante. „Madame kann einen Strohhut tragen, wenn ihr das Licht der Sonne zu stark ist.“
„Einen Strohhut!“, rief die Tante und verdrehte die Augen. Als Struensee kurz darauf das Haus verließ, hörte er sie zu jemandem sagen: „Das ist überhaupt kein Arzt. Er riecht nicht medizinisch, und wenn man auf ihn hörte, wäre ja das Gesundwerden das reinste Vergnügen. Er hat sie nicht einmal zur Ader gelassen. Wenn das mal gut geht.“
Aber die junge Frau wurde gesund. Auf der Terrasse zwischen Struensee und einem Schwarm von Besucherinnen fand sie neues Interesse an der Welt, das ihr in der Krankenstube allmählich abhanden gekommen war.
Die jungen Mädchen und Frauen umschwärmten den sympathischen Arzt, zogen ihn mit sich in den Garten und zum See hinunter, sangen Lieder und kokettierten mit ihm. Struensee verstand sich auf die weibliche Seele. Der Arzt lächelte in seinem düsteren Verlies vor sich hin, als er sich daran erinnerte, dass fast alle Patientinnen ein wenig in ihn verliebt gewesen waren. Weil er jung war, frischen Wind verbreitete und ihre Langeweile vertrieb. Sie hingen an seinen Lippen, wenn er ihnen Passagen aus Werken von Rousseau und Voltaire vorlas.
S truensees Gedanken wanderten weiter. Er sah sich den Eulenkrug betreten. Reimarus saß an seinem Stammplatz. Er bestellte im Vorbeigehen bei der Wirtin einen Kaffee und begrüßte den Kollegen. Reimarus war Arzt im benachbarten Hamburg. Er war der Sohn des bekannten, mit Lessing befreundeten Religionsphilosophen, zehn Jahre älter als
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