Der Fall Struensee
auf, in gleichmäßigen Abständen, hohl wie die Pendelschläge einer geheimnisvollen Uhr. Ganz langsam begriff er, was mit ihm geschehen war und wo er sich befand. Er starrte vor sich hin. Schrecken umklammerten sein Herz. Man hatte ihn ausgelöscht. Er richtete sich auf seinem Schemel auf. Mattes Dämmerlicht drang durch ein kleines rundes, stark vergittertes Fenster nahe der gewölbten Decke und enthüllte ihm das Aussehen seines Verlieses. Kahle Wände, ein Eimer für seine Notdurft, eine Holzpritsche mit schmutzigem Stroh – und der Schemel, auf dem er saß. Das war alles.
Dumpfe Schritte näherten sich. Schlüssel klirrten. Das Schloss kreischte widerwillig und harsch, die schwere Tür öffnete sich knarrend. Ein ältlicher Mann stand da, einen riesigen Schlüsselbund in der Hand. Er war unrasiert und bleich, an seiner blauen Uniform fehlten Knöpfe. „Ich heiße Juel“, sagte er, „und bringe Wasser.“ Er reichte Struensee einen Tonkrug, den dieser rasch ergriff und gierig an seine Lippen führte. Das Wasser rann wohltuend durch seine Kehle. „Herr Graf hat eine gute Zelle, zuvor war ein Seeräuber hier einquartiert. Er saß drei Jahre, dann wurde er gehängt. Er war auch ein schöner Mann wie der Herr Graf, aber anders mit schwarzen Locken und Ringen in den Ohren“, schwatzte Juel. Struensee sah ihn verstört an. „Aber jetzt müssen wir gehen, Herr Graf.“
Sie verließen die Zelle und gingen durch ein labyrinthisches Gewirr von Gängen und Korridoren, sie überquerten Höfe und stiegen Treppen hinauf und hinunter. Aus manchen vergitterten Luken sahen ihnen Augen nach. Sie kamen auf einen kleinen Hof, ein viereckiges Loch zwischen hohen Mauern. Der Himmel war nur ein kleiner grauer Fleck. Drei Burschen mit roten Gesichtern, in geflickten Kniehosen und dicken Schuhen machten sich an einem Holzkohlenfeuer zu schaffen, das sie mit einem Blasebalg anfachten, dass es glühte. Struensee schluckte. „Hände oder Füße?“, fragte einer der Kerle. „Beides“, sagte Juel. Der Kerl nahm eine Kette, passte sie Struensee an, maß den Umfang seiner Hand-und Fußgelenke und warf dem Kerl an der Esse die Zahlen zu, als solle dem Delinquenten ein Anzug angepasst werden. Während Struensee die Ketten angelegt wurden, schloss er müde die Augen. Es war ihm, als vernehme er in der Ferne das Rufen einer großen Menge von Menschen. Da öffnete er erschrocken die Augen. Das klang wie ein Chor, der den tragischen Helden auf der Bühne bei seiner Erniedrigung begleitet. Aber er befand sich nicht auf einer Bühne, sondern in einem Hof mit steilen Mauern und einem viereckigen Ausschnitt grauen Himmels.
Draußen auf den Straßen Kopenhagens standen die Menschen dicht gedrängt. Bürger und Bürgerinnen hatten in ihrer Freude über Struensees Sturz einen Feiertag aus dem Tag seines Elends gemacht. Die Fenster der Läden waren geschlossen. Männer und Frauen trugen sonntägliche Gewänder. Und gerade in diesem Augenblick hielten Väter, Ammen und Mütter ihre Kinder empor, damit sie die Kutsche des Königs sehen konnten, die einen feierlichen Umzug durch die Stadt machte.
Dragoner des Seeländischen Reiterregiments mit ihren Standarten und ihren Musikern ritten der Kutsche voran. Hörner und Trommeln erklangen. Die überreichlich vergoldete Kutsche mit spiegelnden Fenstern und gekrönt vom Danebrog, wurde von acht weißen Pferden gezogen. Drinnen auf dem Seidenpolster saßen König Christian und Erbprinz Friedrich. Die Menge jubelte. Der Erbprinz verbeugte sich, lächelte und winkte. Christian saß unbeeindruckt da, stumpf vor sich hinblickend. Mitunter streichelte er seinen Pudel. Er murmelte: „Sie sollen weggehen. Warum gaffen sie mich so an? Ich wünsche allein zu sein. Wo ist Struensee?“
„Sire“, zischte der Erbprinz leise, „ich habe Ihnen schon zwanzigmal gesagt, dass Struensee verhaftet ist.“
„Richtig“, erwiderte der König, „aber die Frage ist, warum ist er verhaftet worden?“
„ Mon dieu!“, sagte der Prinz ungeduldig, „Sie haben doch selbst unterzeichnet, Sire. Er hat die Hände nach der Krone ausgestreckt.“
„Tatsächlich?“, antwortete Christian erstaunt. „Aber ich verzeihe ihm. Ich möchte, dass er wieder zu mir kommt, wenn es mir nicht gut geht.“ Er ist wirklich unbelehrbar, dachte der Prinz und seufzte. Christian versank wieder in Schweigen und kraulte geistesabwesend den Pudel.
Struensee wurde zu seiner Zelle geführt. Er ging langsam, unbeholfen und mühsam in den
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