Der Fall Struensee
dieser Methode durch die Geistlichen. Sie sagen, dass die Schutzimpfung gegen die Pocken die Seele in Gefahr bringe.“
„Mein Vater wettert auch gegen das Impfen. Er hält es für einen vermessenen und sündhaften Eingriff in die göttliche Vorsehung.“ Reimarus seufzte: „So gesehen ist der Kampf gegen die Pocken zugleich ein Kampf gegen Aberglaube und Vorurteil. Nehmen wir ihn auf!“ Der Hausdiener brachte das belebende Getränk. Beide tranken genüsslich einen Schluck. Struensee fragte: „Wie gehst du bei der Inokulation vor?“
„Ich vermeide natürlich jede vorherige Schwächung der Patienten und ich mache bei der Impfung keine tiefen Schnitte. Sodann ist es wichtig, die Geimpften zu isolieren, um eine Verschleppung der Blattern auf die Umgebung zu verhindern.“
„Letzterem steht die Raumnot im Waisenhaus entgegen. Da muss ich zuerst eine Lösung finden.“
„Waisenhäuser sind ja latente Pockenherde, allerdings hat das auch etwas Gutes. Man kann dort leicht an Pusteleiter gelangen.“ Struensee erwiderte: „Bei Findelkindern halte ich das für problematisch, denn ein hoher Prozentsatz ist auch venerisch verseucht. Mit dem Blatternstoff würde man auch das Gift der Lustseuche einimpfen.“
„Hast du eine Theorie, wie Seuchen übertragen werden?“, fragte Reimarus.
„ Vergiftete Luft kann es nicht sein, denn es gibt viele Fälle, wo die Blattern durch einen Brief oder weitergegebene Kleidung von an Blattern Erkrankten verbreitet wurden. Ich denke, es geschieht durch unmittelbare Berührung mit dem Stoff, der aus dem Körper des Kranken kommt. Das Blatterngift kann allerdings auch mittelbar durch Gegenstände oder Kleidung, die der Kranke berührt hat, verbreitet werden. So wie die Eigenschaft des Magneten durch Berührung auf viele Eisenstücke übergehen kann, ebenso kann das Blatterngift von einem Kranken auf viele Gesunde, welche noch keine Blattern gehabt haben, übertragen werden.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Es könnte auch sein, dass die Krankheit durch Fliegen übertragen wird.“
„Aha. Wie kommst du darauf?“, fragte Reimarus.
„ Du Kennst doch den jüdischen Arzt Hartog Gerson?“
Reimarus nickte.
„Er hat unter seinem Mikroskop Fliegen untersucht. An Rüssel und Beinen kann man bei der Vergrößerung sehen, dass ihnen Partikel anhaften. Ein Fliegenbein besitzt eine Menge Krallen und Haare, an denen möglicherweise Seuchenstoff hängen bleibt. Sydenham schrieb kürzlich, dass auf einen fliegenreichen Sommer ein durchfallreicher Herbst folgt. Es könnte also sein, dass Fliegen das Contagium weitertragen und verbreiten.“
„Also sollte man sorgsam darauf achten, dass keine Fliegen in den Stuben der an Blattern Erkrankten sind. Die Erfahrung wird dann zeigen, ob diese Vermutung richtig ist.“
Struensee nickte und nahm Stück Gebäck, das auf dem Tisch stand. „Wie kommt es eigentlich, dass die, die schon die Blattern hatten, diese Krankheit nicht ein zweites Mal bekommen? Bei Masern und Röteln genauso. Andere Krankheiten kann man durchaus öfters zuziehen.“
„Das weiß ich nicht“, antwortete Struensee, „das lehrt uns einzig die Erfahrung. Theorien sind gut und schön, letztlich sind wir jedoch auf unsere Beobachtungen angewiesen. Mit Theorien sind wir im Studium genug gemästet worden. Manche Professoren leiten ihre Studenten lediglich an, die klassischen Autoren zu lesen und zu interpretieren, besonders Galen mit seiner unsäglichen Säftelehre, ohne je einen Patienten zu Gesicht zu bekommen. Es ist ja so viel einfacher, etwas zu glauben, was andere sagen, als durch eigenes Denken und Tun zu erfahren, wie es wirklich ist. Aristoteles und Galen sind für mich keine Autoritäten, wenn ihre Behauptungen nicht den Erfahrungen entsprechen oder durch Nachprüfungen beweisbar sind.“ Struensee hatte sich so in Zorn geredet, dass Reimarus als der Ältere ihn beruhigen musste: „Bei mir rennst du da offene Türen ein. Bleib gelassen, du wirst nicht alle Kollegen überzeugen können. Viele bleiben in ihrer geistigen Trägheit hängen und übernehmen widerspruchslos Beurteilungen und Theorien von anderen. Es gibt aber auch welche, die nicht den Mut haben, gegen die Dogmen der Schulmedizin anzugehen.“
„Für mich gilt, was der Aufklärer Wolff lehrt: Ich werde nichts ohne zureichenden Grund für wahr halten.“ Reimarus schmunzelte über den Eifer seines jungen Kollegen, mit dem er seine Überzeugungen vortrug. Er hoffte im Stillen, dass er sich nicht allzu
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