Der Fall Struensee
beugte sich über sie und küsste sie sanft auf die Lippen. Sie streckte die Arme aus, legte sie um seinen Nacken und zog ihn an sich. Als er ihre Brüste aus dem engen Mieder befreite, lief ein wonniger Schauer über ihren ganzen Körper. Er bedeckte sie mit seinen Küssen. Seine Hand wühlte sich unter die vielen Röcke und Unterröcke, tastete über ihre Strumpfbänder an den Oberschenkeln bis zu einem noch geheimeren Ort, was ihr tiefe Seufzer entlockte. Alles erschien ihr so leicht und natürlich, erst hinterher war sie ein wenig erschrocken, wie sorglos sie sich dem jungen Arzt hingegeben hatte. Doch sie wollte das Verhältnis zu ihm auf keinen Fall abbrechen, denn es versprach, reizvoll und anregend zu werden.
Es war Zeit, dass sie einmal an sich selbst dachte. Bisher hatte sie ihre eigenen Wünsche stets der Karriere ihres Mannes untergeordnet. Struensee betrachtete lächelnd das nachdenkliche Gesicht der schönen Frau und küsste sie leidenschaftlich. Inzwischen war es in der Scheune schon dämmrig geworden und Annette sagte: „Komm, wir müssen gehen.“ Er stand auf, griff ihr kraftvoll unter den Arm und half ihr hoch. Sie ordneten ihre Kleider und klaubten sich zärtlich gegenseitig das Heu aus den Haaren. Dann traten sie hinaus in die goldene Abendsonne.
Nach zwei Wochen reiste Annette von Gähler mit ihrem Gatten wieder zurück nach Kopenhagen, aber sie blieben brieflich in Verbindung. Später setzten sie ihre Beziehung in Kopenhagen fort. General von Gähler wurde eine wichtige Stütze für Struensee, er half ihm bei der Reform von Verwaltung und Justiz.
Struensee hatte immer noch sehr wenig Einkommen. Eine Privatpraxis hatte er nicht, obskure Geheimmittel, mit denen manche Kollegen ein Vermögen verdienten, lehnte er ab. Die Heilung reicher Patienten zahlte sich auch nicht übermäßig aus. Er war einfach nicht an Geld und materiellen Dingen interessiert. Er wollte etwas anderes. Er strebte eine Gesundheitsreform an.
Er begann mit der Aufzeichnung seiner wichtigsten medizinischen Erkenntnisse, in klarer Sprache ohne lateinische Vokabeln. Er setzte auf Einsicht und Vernunft. Die Leute sollten verstehen, worum es ihm ging. In rascher Folge erschien eine Reihe von Aufsätzen. Er sprach von Schwangerschaft, Geburtshilfe und Säuglingspflege und riet den jungen Müttern, ihre Kinder selbst zu nähren. Er geißelte Aberglauben und Quacksalberei. Er legte seine Ansichten zu Blattern, Faulfieber und Ruhr nieder. Beschäftigte sich mit einem Tabuthema, den Geschlechtskrankheiten. Forderte eine Hebammenschule und eine spezielle Entbindungsanstalt für ledige Mütter, wo sie in Ruhe und Würde ihr Kind zur Welt bringen könnten. Sprach sich für eine Drehlade an den Findelhäusern aus, wo ledige Mütter, die nicht für ihr Kind sorgen konnten, ihr Kind ablegen konnten. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der wohlanständigen Leute. Diese Unmoral! Er stieß damit die bigotten Philister vor den Kopf. Eine straffreie Entbindung, eine Befreiung des unehelichen Kindes von den üblichen Kirchenstrafen! Das war ja geradezu eine Aufforderung zur Unzucht. Er erkannte, dass es unmöglich war, die medizinischen Probleme ohne soziale und politische Reformen zu lösen.
Doch Struensee stieß auf Desinteresse bei der Obrigkeit an einer Reform des Medizinalwesens. Die Behörden empfanden sein Engagement eher als lästig.
Obwohl er sich ablenkte und seine Gedanken in die Vergangenheit schweiften, konnte er sich nur schwer an die Ketten, das mangelnde Licht und die schlechte Luft in der Zelle gewöhnen. Es war bitterkalt und er hatte nur seinen Mantel und eine löchrige Decke. Zudem quälten ihn noch immer die Verletzungen, die er sich selbst zugefügt hatte, als er sich den Schädel an der Mauer hatte einrennen wollen. Anfälle von Verzweiflung wechselten mit Tagen, an denen er glaubte, dass jeden Augenblick die schwere Tür sich öffnen müsse und er entlassen würde in die Freiheit.
Er setzte sich auf und entwarf im Geiste seine Verteidigung. Schreibzeug hatte er nicht. Und er tappte im Ungewissen. Er wusste nicht, warum er verhaftet worden war. Es konnte eigentlich nur ein Komplott sein. Politische Gegner in den allerhöchsten Kreisen. Wer genau waren seine Feinde? Er fürchtete, dass seinen Bruder, Brandt und Rantzau das gleiche Los getroffen hatte. Und was war mit Mathilde? Sie war sicher dabei, seine Lage zu erkunden und den Irrtum seiner Verhaftung aufzuklären. Aber es dauerte nun schon lange. Er versuchte, sich
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