Der Fall Struensee
lächelte sie an und fragte: „Wie fühlt sich das an?“ Das älteste Mädchen seufzte leise und sagte: „Sehr gut, Herr Doktor.“ Währenddessen war der Bauer vom Feld zurückgekehrt, kam hereingeschlurft, räusperte sich und meinte: „Sie sind der Stadtphysikus von Altona?“ Struensee nickte ihm über die Schulter zu. „Das gab es bisher nicht, dass sich ein Arzt hierher verirrt hat. Vor allem nicht bei einer ansteckenden Krankheit. Da bleiben die Herren lieber fern.“
„Ich hatte die Blattern schon, als ich fünf Jahre alt war, deshalb bin ich dagegen gefeit“, antwortete er, ohne seine Maßnahmen zu unterbrechen. Der Bauer fuhr fort: „Der Pfarrer sagt, dass jeder Mensch diese Krankheit durchmachen muss, damit die schlechte Materie der Erbsünde ausgeschieden werden kann. Sie ist ein gottgewolltes, unausweichliches Übel.“ Struensee fuhr den Kindern sanft über die Stirn, erhob sich und wandte sich zu dem Bauern um. „Was der Pfarrer sagt, ist seine Sache. Aber als Arzt sage ich Ihm, dass man schon mit etwas mehr Sauberkeit diese Krankheit eindämmen könnte. Hat Er noch weitere Kinder?“ Der Bauer schüttelte den Kopf. „Gut. Wenn Er meine Anweisungen befolgt, haben die Kinder gute Chancen, die Krankheit zu überleben. Die Stube soll eher kühl als zu warm sein. Regelmäßig frische Luft reinlassen. Kalte Waschungen und Kompressen vornehmen. Dadurch lässt die Entzündung nach und auch das Jucken der Pusteln wird gemildert. Und auf keinen Fall irgendwelche Mittel aus der Drecksapotheke!“
„Was meinen Sie damit?“, fragte der Bauer.
„Na, zum Beispiel Gänsekot mit Schnaps vermischt. Auf gar keinen Fall“, ordnete der Arzt mit Nachdruck an.
Struensee stieg auf sein Pferd, um zum nächsten Bauernhof zu reiten. Diese vermaledeite Säftelehre, dachte er. Sie stammte noch aus der Antike und besagte, dass man von der materia peccans, mit der jedermann wie mit der Erbsünde behaftet sei, nur durch eine Blattereruption erlöst werden konnte. Die therapeutischen Maßnahmen der meisten Ärzte waren ganz und gar auf die Eliminierung des verdorbenen, des störenden Säfteanteils ausgerichtet. Dazu dienten Aderlässe, Brechmittel, Abführmittel und Schwitzkuren. Meistens wurden die Kranken dadurch mehr geschwächt, als dass ihnen geholfen wurde.
Es starben mehr Kranke durch üble Verfahren und verkehrte Mittel, die man zu ihrer Heilung anwendete, als durch die Gefährlichkeit der Krankheit selbst. Wenn man doch nur die weitverbreiteten schädlichen Vorurteile ausrotten könnte! Die Menschen hatten zum Beispiel die abergläubische Angst, dass durch ein Verhindern des Hautausschlages dieser auf die inneren Organe zurückschlagen und dann ein tödliches Leiden bewirken könnte. Als ob die Pocken nicht tödlich genug wären!
Am nächsten Tag fuhr Struensee zu seinem Kollegen Reimarus nach Hamburg, um sich mit ihm zu beraten. Dieser wandte schon seit Jahren die umstrittene Inokulation an. Reimarus berichtete, dass die Pockenimpfung bereits in den ersten Jahrhunderten n. Chr. in Indien von Brahmanenpriestern vor dem Bild der achtgesichtigen und sechzehnarmigen Pockengöttin Schittala ausgeübt wurde. „Mohammedanische Sklavenhändler brachten dieses Impfverfahren bereits im 11. Jahrhundert nach Kleinasien. In Konstantinopel wurden Haremsdamen und Heranwachsende von erfahrenen Frauen geimpft.“
„Ja, und dort hat sie auch Lady Montagu kennengelernt. Du kennst sicher ihre ‚Briefe aus dem Orien t′ , in denen sie die Inokulation beschreibt“, ergänzte Struensee. „König Georg I. ließ erst Experimente an Sträflingen und Waisenkindern vornehmen, bevor er die Kinder des Prinzen von Wales impfen ließ. Danach wurde die Inokulation in England in gewisser Weise Modesache, ist aber immer noch ziemlich kostspielig, sodass sie sich nur wohlhabende Leute leisten können.“
Sie nahmen an einem kleinen Tisch im Salon Platz und Reimarus bat seinen Bedienten, Kaffee zu kochen. Struensee ereiferte sich: „Ich verstehe nicht, dass die Kollegen dafür so hohe Honorare verlangen. Man braucht ja nichts weiter als ein wenig Pusteleiter. Ich würde es mit deiner Hilfe und Erfahrung auf mich nehmen, die Waisenkinder in Altona kostenlos zu impfen.“
„Die Ärzteschaft hat deswegen kein großes Interesse an der Eindämmung der Pocken, da die Behandlung derselben für sie ein einträgliches Geschäft ist. Und wenn sie dann doch impfen, verlangen sie entsprechend ein hohes Honorar. Dazu kommt die Verteufelung
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