Der Fall Struensee
„Der Kranke soll im Sommer nicht mit zu vielen Bettdecken überhäuft werden. Auch sollen die Fenster den Tag über einige Male geöffnet werden, damit frische Luft hereinkommt. Im Winter sollen die Stuben nicht übermäßig eingeheizt und der Kranke nicht zu nahe an den Ofen gelegt werden. Durch die übermäßig heißen Stuben werden nicht nur die Blattern, sondern auch die gutartigen Masern und Röteln in bösartige Krankheiten verwandelt und die meisten Kinder dem Tod preisgegeben. Die Stuben sollen eher kalt als zu heiß gehalten werden.“ Ebenso warnte er immer wieder vor dem Waschen der Toten, ihrer Ausstellung im offenen Sarg und den Bewirtungen im Sterbehaus, da er überzeugt war, dass dieser Brauch viel zur Weiterverbreitung der Seuche beitrug. Auch sollten Spielsachen blatterkranker oder an Blattern verstorbener Kinder nicht weitergegeben und Kleider sowie Bettwäsche von Verstorbenen nicht verschenkt oder weiterverkauft werden.
Die geimpften Kinder blieben von den Pocken verschont. Das verschaffte ihm Anerkennung und Wertschätzung. Man wurde auch in den Adelskreisen auf ihn aufmerksam, und jeder wollte sich von diesem geschickten und billigen Arzt behandeln lassen. Die Landsitze der Aristokratie öffneten sich dem Armenarzt von Altona. Und er machte in den Salons eine vorzügliche Figur, man schätzte seine Eleganz und seinen Charme. Er gab sich ja auch völlig anders als die meisten seiner Zunft, ganz ohne deren Gehabe, ohne Brille und Talar und dabei so belesen, so geistreich, eine angenehme Erscheinung mit wohlfrisiertem blonden Haar, das ungepudert auf seine Schultern fiel. Er wusste genau, wie man ihn sah, manche hatten es ihm auch zugeraunt.
Dazu kam, dass er eine Gräfin von den Pocken geheilt hatte, ohne dass Narben zurückblieben. Den Freiherrn von Berckentin hatte er von seinen Nierensteinen geheilt, indem er ihm harte Ausritte über Stock und Stein verordnete. Sogar ein Kollege, der renommierte Doktor de Citano, konsultierte ihn. Und er konnte sein quälendes Gichtleiden lindern. So wurde er zum Modearzt von Altona. Vornehme Patientinnen begannen, sich mehr für den Mann als den Arzt zu interessieren. Und in dieser Hinsicht ließ er auch nichts aus. Warum sollte er? Er war jung, ein blendend aussehender Mann Mitte zwanzig. Er verstand seinen Charme einzusetzen, den bezwingenden Blick seiner blauen Augen, die verführerischen Künste seiner Beredsamkeit. Sein Alltag als Armenarzt blieb hart und grau genug.
Brandt besuchte ihn in Altona und erzählte ihm, dass Major von Gähler und Etatsrat von Ahrend mit ihren Gattinnen in der Stadt seien. Beide Herren waren in dänischen Diensten in irgendwelchen Staatsgeschäften unterwegs. Brandt kannte Frau von Ahrend flüchtig. Die beiden jungen Frauen langweilten sich und waren erfreut, als die beiden Herren ihnen ihre Aufwartung machten. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Sie wollten in das Hamburger Wirtshaus „Zur Kugel“ in der Nähe vom Adolfsplatz miteinander essen gehen. Sie unterhielten sich angeregt, die Stimmung war heiter.
Zum Nachtisch gab es Sekt mit Erdbeeren. Über die Gläser hinweg wurden Blicke getauscht. Der warme Blick Struensees verlor sich in den schwarzen Augen der Frau von Gähler. Es war noch früh am Nachmittag und sie beschlossen, eine Kahnpartie auf der Alster zu machen. Die Frühlingsluft wehte leicht und erfrischend. Der süße Duft der blühenden Linden war betörend. Sie stiegen in einen Kahn, den Struensee mit kräftigen Ruderschlägen vorwärtstrieb. Die Damen genossen das sanfte Gleiten, das leichte Schaukeln des Bootes und das Geplätscher des Wassers. Im Hintergrund sah man die Türme der Stadt.
Sie sprachen wenig, nur Brandt plauderte wie ein aufgezogenes Uhrwerk, aber niemand hörte ihm zu. Struensee ruderte unter der Lombardsbrücke hindurch und sie gelangten in die Außenalster. Nach einer Weile lenkte Struensee den Kahn ans Ufer und sie stiegen aus. Über eine Wiese mit uralten Eichen gelangten sie zu einem verlassenen Landhaus. Auf dem Hof, der mit Kopfsteinen gepflastert war, lag ein umgeworfener Pflug. Brandt und Frau von Ahrend setzten sich auf eine Bank, während Struensee und Frau von Gähler weiterschlenderten. Sie öffneten die Tür zu einer Scheune, der Duft des Heus schlug ihnen entgegen. Durch eine Dachluke schien warm die Sonne herein. Staubpartikel tanzten in ihrem Licht. Sie ließen sich auf dem wohlduftenden Heu nieder.
Annette schloss die Augen und atmete tief ein. Struensee
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