Der Fall Struensee
Du solltest mich mal wieder in Hamburg besuchen, dann zeige ich dir unseren Apothekergarten, in dem eine Menge Heilkräuter wie Schierling, Herbstzeitlose und Eisenhut wachsen.“
„Alle Arzneien werden in den Händen eines Unerfahrenen zu Gift, während ein vorsichtiger Arzt die stärksten Gifte in Arzneien verwandeln kann. Im Übrigen hemmen Vorurteile und vorgefasste Meinungen den wissenschaftlichen Fortschritt. Diese Henker-und Schinder-Medizin, die sich des Aberglaubens bedient, ist mir zuwider.“
Reimarus bestellte einen weiteren Kaffee und antwortete: „Dr. Stoerk in Wien hat herausgefunden, dass Samen und Blätter des Bilsenkrautes ein sehr wirksames Mittel bei verschiedenen Nervenkrankheiten ist. Ebenso der Stechapfel. Es ist ein Skandal, dass unruhige Geisteskranke wie Verbrecher in dunklen Verliesen angekettet sind oder in winzige Käfige gesperrt werden. Wenn man diese beruhigenden Drogen einsetzen würde, könnte man eine Humanisierung der Behandlung solcher Kranken bewirken.“
Das Stichwort „dunkle Verliese“ brachte Struensee aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Er hatte sich einige Stunden in Erinnerungen verloren und dabei seine furchtbare Situation vergessen. Er dachte, wie gut es wäre, Stechapfelextrakt, Bilsenkraut oder Laudanum zu haben! Sein Kopf, seine Gelenke und sein Rücken schmerzten. Seine kurzzeitige Zuversicht war verflogen, und er fragte sich erneut, was wohl auf ihn zukommen würde. Da war wieder diese schreckliche Angst, die Übelkeit verursachte und seine Kehle zuschnürte. Schlurfende Schritte näherten sich, Schlüssel rasselten und Joel trat in sein Verlies. Er brachte Wasser und etwas Brot.
Er sah nur flüchtig zu Struensee hinüber und wollte sich entfernen. Struensee richtete sich mühsam auf und rief: „Joel. Weißt du nicht etwas? Wann werde ich vor Gericht gestellt oder freigelassen?“ Joel zuckte gleichmütig mit den Schultern und ging hinaus. Struensee trank ein wenig Wasser und aß das kleine Stückchen Brot. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er in eine so fürchterliche Lage geraten war. Jetzt fiel ihm ein, dass es einige Warnungen gegeben hatte. Zuletzt von Rantzau. Vielleicht hätte er sich doch, als noch Zeit war, ins Ausland absetzen sollen. Was war mit den anderen geschehen? Mit seinem Bruder, mit Falckenskiold, mit Brandt? Er wusste nicht einmal genau, wer seine Gegner waren. Er hatte sich zu sicher gefühlt mit seinen umfassenden Machtbefugnissen.
Was hatte man dem König erzählt? Hatte Christian wirklich seine Unterschrift unter den Haftbefehl gesetzt? Gesehen hatte er sie nicht. Wie lange wollten sie ihn hier schmoren lassen, ohne ihm zu sagen, was ihm eigentlich vorgeworfen wurde? Nutzlose Fragen. Er ließ sich wieder auf den stinkenden Strohsack fallen und kehrte in Gedanken nach Altona zurück.
Schon zu Beginn seiner Tätigkeit als Stadtphysikus wurde er mit einer Pockenepidemie konfrontiert. Als in Meldorf die ersten Fälle bekannt wurden, reiste er aufs Land, um nach den Patienten zu sehen. In einem Bauernhaus lagen drei Kinder krank auf einer Bettstatt, mit Bergen von Decken überhäuft. Unter das Bett hatte man Schüsseln mit dampfenden Erbsen gestellt. In der Krankenstube stank es bestialisch. Struensee zog den Kindern die Bettdecken weg, um sie sich genauer anzuschauen. Sie waren mit Eiterpusteln übersät, ihre Hemden starrten von dem ausgelaufenen und getrockneten Eiter. Struensee fragte die Bäuerin, wann das Zimmer zum letzten Mal gelüftet worden sei. Sie antwortete: „Seit sie krank sind, halten wir die Fenster sorgsam verschlossen und wenden die hitzige Kur an, damit die ungesunden Säfte aus ihren Körpern herausgetrieben werden.“
„Das ist die falsche Methode“, entgegnete der Arzt, „ich werde jetzt frische Luft in die Stube lassen. Sodann werde ich bei den Kindern kalte Waschungen und Kühlungen vornehmen.“ Er ging zum Fenster. „Nein“, rief die Bäuerin erschrocken, „nichts ist bei Blattern schädlicher als frische Luft!“
„Glauben Sie mir, gute Frau, ich weiß, was ich tue“, antwortete er ruhig und öffnete das Fenster. Dann bat er sie, den Kindern die schmutzigen Hemden auszuziehen, den Erbsenbrei wegzunehmen und ihm eine Schüssel mit kaltem Wasser und mindestens drei saubere Tücher zu bringen. Behutsam legte er den Kindern kalte Kompressen auf die juckenden Pusteln.
Die Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, sahen den Arzt mit großen Augen an. Er
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