Der Fall
als er Pops bescheidene Wohnung in der East Seventysixth Street betrat, war die durchdringende Stille. »Hallo?«, rief er, nur um ein Geräusch zu machen. »Irgendjemand zu Hause?« Niemand antwortete.
Immer noch mit dem Kleidersack über der Schulter, machte er ein paar zaghafte Schritte und ließ dann seine Sachen zu Boden sinken. Dann ging er rasch in Pops Schlafzimmer und entschied ebenso rasch, dass er nicht in Pops Bett schlafen würde. Es kam ihm nicht richtig vor. Nachdem er den Wäscheschrank gefunden hatte, zog er ein paar Laken und eine Decke heraus, klappte die Schlafcouch auf und machte das Bett. Dann musste er sich bloß noch drauflegen.
Es ist nur, bis der Prozess vorbei ist, sagte er sich. Mehr hat sie doch damit nicht gemeint, oder? Voller Widerstreben, sich seine Frage zu beantworten, ging er zur Wohnungstür zurück und vergewisserte sich, dass sie auch wirklich abgeschlossen war. Im Gegensatz zu seiner und Saras Wohnung, die mit zwei Panzerriegeln und einer Kette gesichert war, hatte Pops Wohnungstür nur ein Schloss – dasselbe, das bereits eingebaut gewesen war, als Pop vor fast zwanzig Jahren einzog. Pop genügte dieses eine Schloss, um sich sicher zu fühlen. Jareds Problem war ein ganz anderes. Jared machte sich nicht wegen des Schlosses Sorgen. Er machte sich nicht einmal um sich Sorgen. Er machte sich um seine Frau Sorgen. Und je länger er nicht zu Hause war, desto länger war Sara ungeschützt.
Zurück im Wohnzimmer, nahm Jared das Telefon vom Couchtisch und wählte seine Privatnummer. Komm schon, Schatz, und nimm endlich ab! Das Telefon läutete wieder. Mach schon, Sara, ich weiß, du bist da. Und wieder. Bist du wirklich da? Und wieder. Wo bist du? Und wieder. Sara, jetzt machst du mir Angst. Bist du-
»Hallo«, hauchte sie endlich mit schlaftrunkener Stimme in den Hörer.
»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt hier bin und dass –«
Sara legte auf.
Beruhigt stellte Jared das Telefon ab. Sie war in Sicherheit. Vorerst.
Sie hatte nach seinem Anruf nicht mehr einschlafen können. Es machte ihr nichts aus, dass er ihre Wohnung verließ, und es machte ihr nichts aus, dass sie nicht wusste, wo er war, aber sobald er anrief, um zu sagen, dass bei ihm alles in Ordnung war, war es um ihre Ruhe geschehen. Vielleicht war es der Klang seiner Stimme, vielleicht ihr schlechtes Gewissen. Egal was, es begann seine Wirkung zu zeigen. Aber diesmal würde sie allein damit zurechtkommen müssen.
Um halb fünf Uhr morgens war Sara immer noch hellwach. Zuerst versuchte sie es mit einer Tasse warmer Milch. Dann versuchte sie es mit klassischer Musik. Dann fragte sie sich, ob es etwas anderes gab, was ihr fehlte. Aus Erfahrung wusste sie, dass es, wenn sie nicht einschlafen konnte, entweder daran lag, dass sie den vergangenen Tag noch einmal durchlebte oder dass sie Angst hatte, sich dem bevorstehenden zu stellen. In diesem Fall traf beides zu. Und als sie sich instinktiv an die Kissen auf Jareds Seite des Betts kuschelte, wusste sie, es würde keine leichte Nacht werden.
»Woran ist er gestorben?«, fragte Walter Fawcett am nächsten Morgen unverblümt. Fawcett, ein schwergewichtiger Mann mit heiserer Stimme, dickem Schnurrbart und noch dickeren Brillengläsern, war einer der zehn Gerichtsmediziner, die in Manhattan mit der Durchführung von Obduktionen betraut waren. Er und Sara standen vor dem Obduktionsraum im Keller des gerichtsmedizinischen Instituts und sprachen über die näheren Umstände von Arnold Donigers Tod.
»Laut Totenschein und laut Aussagen seiner Frau fiel er infolge seines Diabetes in ein Koma«, sagte Sara und rieb sich die geröteten Augen. »Anscheinend war sein Blutzuckerspiegel zu niedrig.«
»Sie sagten vorher, die Rettungssanitäter hätten ihn eingeliefert. Irgendwas Auffälliges in ihrem Bericht?«
Sara reichte Fawcett eine Kopie des Berichts. »Hier steht, dass Arnold Doniger den ganzen Abend vor seinem Tod ziemlich schlecht gelaunt war. Seine Frau hat ausgesagt, dass er wegen seines Diabetes häufig solche Phasen hatte. Deshalb nimmt sie an, sein Blutzucker sei zu niedrig, und gibt ihm etwas Apfelsaft und einen Müsliriegel. Ein paar Stunden später, unmittelbar bevor er zu Bett geht, sieht sie, wie er sich eine Spritze gibt. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, liegt er tot neben ihr. Sie bekommt einen Schock und ruft einen Krankenwagen. Ende der Geschichte.«
»Das ist nie und nimmer das Ende«, sagte Fawcett.
Weitere Kostenlose Bücher