Der Fall
Kinn den Aufzug. Darnell sah sie und musste grinsen. »Oh, oh, Sie müssen aber heute wieder Wheaties gegessen haben – Sie sehen aus wie der absolute Champion!«
»Das ist mein Geheimrezept«, sagte Sara.
Bevor sich die Lifttür schloss, sprang ein junger Mann in einem kurzärmeligen Hemd in die Kabine. Sara erkannte sofort den Mann in ihm wieder, der nicht nur die Festnahmeformulare im ECAB abgeliefert, sondern sie auch auf die Idee gebracht hatte, Stockwells Fall zu klauen.
»Was gibt’s Neues, Darnell?«, fragte er den Liftführer. »Irgendwelche heiße neue Gerüchte, die ich … Hey«, rief er, als er Sara sah. »Schön, Sie mal wiederzusehen!«
»Sie kennen sich?«, fragte Darnell.
»In gewisser Weise.« Sara streckte die Hand aus. »Übrigens, ganz offiziell bin ich Sara.«
»Malcolm«, sagte der junge Mann, als die Lifttür zuging. »Und wie kommen Sie mit Ihrem Fall voran? Hatte ich recht, oder hatte ich recht!«
»Es war genau, wie Sie gesagt haben: ein klasse Fall.«
»Natürlich war es ein klasse Fall! Wenn nicht, hätten Sie ihn nicht gekriegt.«
Sara zog eine Augenbraue hoch. »Wie bitte?«
»Sie wissen schon, den Fall.«
»Und was ist mit dem Fall?«
Malcolm schwieg betreten. Schließlich sagte er: »Entschuldigung. Ich dachte, darüber hätten Sie bereits gesprochen.«
»Worüber? Und mit wem?«
Malcolm sah Darnell an, dann wieder Sara. Beide blickten ihn fragend an. »Also, mehr will ich dazu nicht sagen. Wie es scheint, habe ich sowieso schon wieder zu viel geredet.«
»Malcolm …«
»Nein, nein, nein, kommt überhaupt nicht infrage! Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich an Stockwell.« Als im sechsten Stock die Lifttür aufging, verließ Malcolm die Kabine. »Bis später, Sara. Bye, Darnell.«
Als die Tür wieder zuging, fragte Darnell: »Ist irgendwas? Sie sind ja kreidebleich.«
»Fahren Sie mich einen Stock höher«, sagte Sara. »Schnell.«
Sara stürmte aus dem Lift und direkt in ihr Büro, wo sie einen ihrer alten Notizblöcke aus einer Schreibtischschublade holte. Reiß dich zusammen, redete sie sich gut zu. Lass dich jetzt nicht durcheinander bringen. Überleg einfach, wie und warum es dazu gekommen ist. Sie spulte das Gespräch mit Malcolm noch einmal Silbe für Silbe in ihrem Kopf ab. Wenn nicht, hätten Sie ihn nicht gekriegt. Wenn nicht, hätte ich ihn nicht gekriegt. Wenn nicht, hätte ich ihn nicht gekriegt. Sie blätterte in ihrem Block, bis sie eine leere Seite fand. Wieder einmal fragte sie sich: Warum könnte Victor Stockwell diesen Fall gewollt haben? Gewissenhaft und systematisch ging sie alle ihre alten Antworten durch: Weil er Kozlow kennt, weil er Kozlow hasst, weil er Kozlow bestrafen will.
Verdammt, dachte sie plötzlich. Dass sie darauf nicht gleich gekommen war! Er hatte sich schon vom ersten Tag an ihre Schwäche zunutze gemacht. Sie schloss die Augen und versuchte die fehlenden Teile zu ergänzen. Und mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Sie ballte die Fäuste, als sie merkte, wie ihr die Wut in den Nacken stieg. Sie versuchte erst gar nicht, sie zu unterdrücken. »Du mieses Schwein!«, schrie sie und schleuderte den Block gegen die Wand. »Wie konnte ich nur so blöd sein?«
Sara warf die Tür ihres Büros hinter sich zu und stürmte den Flur hinunter. Ohne anzuklopfen, riss sie Victor Stockwells Tür auf.
»Kommen Sie rein.« Stockwell sah von seinem Schreibtisch auf.
Sara kochte vor Wut.
»Wie es scheint, haben Sie Probleme?«
»Sie wussten die ganze Zeit Bescheid«, stieß Sara hervor.
»Bedaure, aber würden Sie mir vielleicht erst erklären, wovon Sie sprechen.«
»Spielen Sie bloß nicht den Ahnungslosen! Sie wussten die ganze Zeit Bescheid, stimmt’s? Als wir uns an meinem ersten Arbeitstag hier im Aufzug begegneten, wussten Sie genau, wer ich bin. Sie kannten meinen Namen, meinen Lebenslauf, alles, was es über mich zu wissen gab. Und was das wichtigste war, Sie wussten, wie dringend ich einen Fall brauchte.«
»Sara, ich habe keine Ahnung, wovon Sie –«
»Es war gar nicht so schwer einzufädeln, oder? Nachdem Sie sich für Malcolm eine gute Erklärung hatten einfallen lassen, mussten Sie nur noch jemanden finden, der blöd genug war, um auf das Ganze reinzufallen. Jemand, der einerseits gute Arbeit leisten würde, sich aber zugleich leicht steuern ließe. Jemand, der zwar energisch war, aber auch zu naiv, um Verdacht zu schöpfen. Jemand, der verwundbar war. Und verzweifelt. Und den Fall übernehmen würde.
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