Der Fall
Jemand wie ich.«
»Ist ja eine tolle Geschichte, die Sie da erzählen.«
»Ich mache mir schon die ganze Zeit Vorhaltungen, dass ich so blöd war. Und so ehrgeizig. Aber in Wirklichkeit ist die Sache ganz anders, oder etwa nicht, Victor? Ich habe diesen Fall keineswegs nur durch mein eigenes Zutun erhalten. Sie haben es so hingedreht, dass ich ihn bekommen würde.«
Über Victor Stockwells Züge legte sich der Anflug eines Lächelns.
»Irgendwie kann ich es immer noch nicht glauben«, fuhr Sara fort. »Warum? Warum haben Sie ihn nicht selbst behalten?«
»Wie ich schon mehrere Male gesagt habe, weiß ich beim besten Willen nicht, wovon Sie eigentlich reden. Aber dieser Kozlow hat es wirklich in sich, nicht?«
Sara biss die Zähne zusammen. »Sie sind ein richtiges Schwein, Victor!«
»Selbst wenn, bin ich zumindest eines, das wesentlich weniger Ärger am Hals hat.«
»Bist du wirklich sicher?«, fragte Moore. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Was muss da groß einen Sinn ergeben?«, entgegnete Sara. »Es war Victor Stockwell.«
»Nur damit wir uns nicht missverstehen – du sagst also, als du an deinem ersten Arbeitstag im ECAB warst, wusste Stockwell nicht nur, dass Malcolm den Fall dort abliefern würde, sondern er hatte Malcolm auch eingeschärft, er solle dafür sorgen, dass du ihn stiehlst?«
»Ganz richtig.«
»Aber wenn Victor den Fall nicht wollte, warum überließ er ihn dann nicht einfach jemand anders? Und wenn er ihn konsequent bearbeitet haben wollte, warum, nichts für ungut, gab er ihn dann dir? Warum gab er ihn nicht jemandem mit mehr Erfahrung?«
»Weil Kozlow und Rafferty nicht erfahren sollten, dass er ihn nicht haben wollte.«
»Traust du jetzt also plötzlich Victor doch wieder nicht mehr zu, dass er einen Fall unterschlagen würde?«
»Nein, ich denke nur, dass er diesen Fall nicht unterschlagen wollte.« Als sie Moores verdutzte Miene sah, fügte Sara hinzu: »Lass mich noch mal ganz von vorn beginnen. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass Victor Stockwell in irgendwelche unsauberen Machenschaften verwickelt ist. Ich glaube, er hat ein paar wohlhabende Kunden, die ihm viel Geld dafür zahlen, dass er leicht zu übersehende Fälle unterschlägt, und ich glaube, er hat jede Menge Dreck am Stecken. In diesem Fall ist nun folgendes passiert: Einer von Raffertys Freunden erzählt Rafferty von Stockwell. Und als Kozlow verhaftet wird, wendet sich Rafferty an Stockwell und klagt ihm sein Leid. Nun steht eines fest: Stockwell ist nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß, diese krumme Tour funktioniert nur, wenn er sichergehen kann, dass alle Beteiligten absolut dichthalten. Nun kennen wir allerdings mittlerweile Kozlow gut genug, um zu wissen, wie gut auf den Kerl Verlass ist … wie auf einen hochgradig Verrückten eben.«
»Stockwell schickt also Rafferty wieder nach Hause.«
»Richtig. Nun ist aber auch Rafferty nicht auf den Kopf gefallen. Da er Stockwells schmutziges kleines Geheimnis kennt, droht er ihm, alles an die große Glocke zu hängen, wenn Stockwell nicht spurt. Selbstverständlich will Stockwell den Fall nicht unterschlagen, denn er weiß, dass er damit Kopf und Kragen riskiert. Und abgeben kann er ihn auch nicht, weil er weiß, dass ihm Rafferty genau auf die Finger sieht. Stockwell steht also vor folgendem Dilemma: Wie wird er einen Fall los, ohne dass es so aussieht, als wollte er ihn loswerden?«
»Er sorgt dafür, dass ihn jemand stiehlt.«
»Kommt Ihnen das Ganze langsam bekannt vor?«
Moore stand auf und sah aus dem Fenster. »In Victors Fall zeugt es sogar von einigem Einfallsreichtum.«
»Der Mann ist sehr versiert im Umgang mit der Macht. Er ist nicht bereit, für jemanden wie Kozlow seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Aber nun muss er nichts machen, als so tun, als wäre er sauer. Dann erklärt er Rafferty und Kozlow, er hätte keinen Einfluss mehr auf das Ganze. Vielleicht tut er Rafferty noch den einen oder anderen Gefallen – leitet zum Beispiel wichtige Informationen an ihn weiter und macht ein paar Fotos für ihn –, und schon ist Rafferty davon überzeugt, dass er auf seiner Seite steht.«
»Er hat dich also die ganze Zeit im Auge behalten …«
»Entweder leitet er alles an Rafferty weiter, oder er sorgt zumindest dafür, dass ich nicht auf seine anderen Fälle stoße.«
Moore wandte sich vom Fenster ab. »Eins verstehe ich immer noch nicht: Um zu wissen, dass du an diesem Nachmittag hierher kommen würdest, muss jemand es Victor
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