Der Fall
Fall beschrieben hast, dürfte es keinen Menschen interessieren, dass du ihn gestohlen hast.«
»Bis auf Victor Stockwell. Ihm bin ich allerdings seitdem nicht mehr begegnet.«
»Apropos Stockwell – hast du deinem Assistenten schon erzählt, dass es Stockwells Fall war?«
»Nur andeutungsweise. Da wir den ganzen Nachmittag unterwegs waren, bin ich einfach nicht dazu gekommen. Außerdem glaube ich nicht, dass ich es ihm jetzt schon erzähle – ich möchte der Sache erst weiter auf den Grund gehen, bevor ich unser gutes Verhältnis aufs Spiel setze.«
»Denkst du immer noch, es könnte mehr dahinter stecken?«
»Ich bin nicht sicher.« Sara hob ihren blauen Hosenanzug vom Boden auf. »Bloß, wenn es kein Fall auf Stockwell-Niveau ist, weiß ich beim besten Willen nicht, wie er dazu beitragen soll, dass ich meine Stelle behalten kann.«
Als Sara sich für ihre spätabendliche Anklageerhebung wieder angezogen hatte, ging sie zur Tür.
»Alles Gute«, rief ihr Jared hinterher. »Zeig’s ihnen!«
»Mach dir da mal keine Sorgen«, erwiderte Sara. »Die Verteidigung kann sich auf etwas gefasst machen.«
Punkt halb elf betrat Sara das Gebäude Centre Street 100. Zu ihrer Überraschung sah sie Guff an der Tür des Gerichtssaals lehnen, in dem die Anklageerhebungen stattfinden sollten.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Sara. »Sie hätten doch nicht zu kommen brauchen.«
»Sie sind mein Boss«, sagte Guff. »Wo Sie sind, da bin auch ich.«
»Wenn das so ist, vielen Dank, Guff! Ich weiß Ihre Unterstützung wirklich zu schätzen. Jetzt müssen wir nur noch warten, bis –«
»SBA Tate! Für welche Anklage haben Sie sich entschieden?«, dröhnte eine Stimme vom Ende des Gangs.
»Einbruch zweiten Grades«, bellte Sara zurück. Moore war immer noch zehn Meter entfernt.
Als der stämmige Ankläger seine zwei Kollegen erreicht hatte, fragte er: »Und warum haben Sie sich den ausgesucht?«
»Weil für einen Einbruch ersten Grades eine Waffe erforderlich ist oder ein gefährlicher Gegenstand, oder eine physische Verletzung eines Opfers, aber in diesem Fall gibt es weder für das eine noch für das andere irgendwelche Anzeichen.«
»Ist das nicht auch für einen Einbruch zweiten Grades erforderlich?«, stellte Moore sie auf die Probe.
»Nicht, wenn das Gebäude Wohnsitzcharakter hat«, sagte Sara mit wachsendem Selbstvertrauen. »Und die East Eighty-second Street 201 gilt definitionsgemäß eindeutig als Wohnsitz. Das Opfer schläft dort jede Nacht. Ich habe sie selbst angerufen.«
Moore grinste. »Sehr gut. Und was ist mit unbefugtem Betreten? Warum lasten Sie ihm das nicht an?«
»Weil der Angeklagte die Uhr, den Golfball und vierhundert Dollar entwendet und damit eine Straftat begangen hat. Unbefugtes Betreten wäre daher ein zu geringfügiger Anklagepunkt.«
»Und Raub?«
»Laut Aussagen des Cops kam es nicht zu Gewaltanwendung. Das schließt Raub aus.«
»Und gewaltsames Eindringen?«
»Da wollten Sie mich aufs Glatteis führen«, sagte Sara. »So etwas wie gewaltsames Eindringen gibt es in New York nicht.«
»Sind Sie sicher?«
Sara hielt seinem Blick stand. »Natürlich bin ich sicher. Ich habe eine Stunde gebraucht, um diese Frage zu klären. Können wir jetzt reingehen und anfangen zu arbeiten?«
»Sie sind der Boss«, sagte Moore und deutete auf die Tür.
Infolge der späten Stunde erwartete Sara, den Gerichtssaal fast leer vorzufinden. Doch als sie eintrat, wimmelte es dort zu ihrer Überraschung von Anklägern, Polizisten, Gerichtspersonal, Verteidigern und frisch verhafteten Angeklagten. Die Ankläger saßen auf der rechten Seite des Saals, die Verteidiger auf der linken. Die Angeklagten mussten sich in einem außerhalb des Saals liegenden Warteraum bereithalten, bis ihr Fall aufgerufen wurde, und der Richter leitete in der Mitte des Saals die Anklageerhebungen, die in der Regel zwischen vier und fünf Minuten dauerten. In diesem Zeitraum wurden die Anklagepunkte verlesen und die Kaution festgesetzt.
Als sie den Saal betrat, wusste Sara, nach wem sie Ausschau halten musste. Rein juristisch gesehen war ihr klar, dass Anklageerhebungen ein wichtiger Garant für Freiheit und Fairness waren. Aber unter taktischen Gesichtspunkten betrachtet, hatten Anklageerhebungen eine völlig andere Funktion, von denen nicht die unwesentlichste war, den gegnerischen Anwälten die Möglichkeit einer ersten Tuchfühlung zu bieten. Ein starker Verteidiger bedeutete für den Ankläger jede Menge Ärger,
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