Der falsche Apostel
begehen?«
»Willst du damit sagen, du bist dir nicht sicher, dass Pater Ibor sich das Leben nahm?«
Bruder Finnlug erschrak. »Habe ich das behauptet?«
»Du hast es angedeutet. Erzähle mir, mit deinen eigenen |473| Worten, was in den letzten zwei Tagen geschehen ist. Gab es irgendwelche Spannungen zwischen Ibor und Febal oder jemand anderem?«
Bruder Finnlug starrte sie einen Moment lang an.
»Ich hörte Pater Ibor am Abend vor seinem Verschwinden mit jemandem streiten.«
Fidelma lehnte sich ermutigend vor.
»Streiten? Mit Pater Febal?«
»Ich bin nicht sicher. Ich kam an seiner Zelle vorbei und hörte ihn mit erhobener Stimme sprechen. Die andere Stimme war leise
und gedämpft. Es war, als hätte Pater Ibor die Beherrschung verloren, aber die Person, mit der er stritt, die Ruhe behielte.«
»Du hast keine Vermutung, wer diese andere Person gewesen sein könnte?«
»Keine.«
»Und du hast nichts über den Gegenstand ihres Streites gehört?«
»Ich habe nur hin und wieder ein paar Worte verstanden.«
»Und welche Worte waren das?«
»Nichts, was einen Sinn ergäbe. Ibor sagte: ›Es ist der einzige Weg.‹ Dann hielt er inne, und nachdem die andere Person etwas
gesagt hatte, antwortete er: ›Nein, nein, nein. Wenn es schon enden muss, will ich doch nicht derjenige sein, der es beendet.‹
Das war alles, was ich gehört habe.«
Fidelma schwieg, während sie über die Angelegenheit nachdachte.
»Hast du irgendetwas aus diesen Worten herausgelesen, besonders im Licht dessen, was danach geschah?«
Bruder Finnlug schüttelte den Kopf.
Plötzlich öffnete sich die Tür der Sakristei, und Pater Febal stand auf der Schwelle, einen seltsam zufriedenen Ausdruck im |474| Gesicht. Er sah aus wie jemand, der gerade eine erfreuliche Nachricht erhalten hatte.
»Wir haben den Dieb gefunden, der Pater Ibor das Kruzifix und den Kelch abgenommen hat«, verkündete er.
Bruder Finnlug sprang schnell auf die Füße. Seine Augen zuckten von Pater Febal zu Schwester Fidelma. Fidelma sah etwas in
seinem Gesicht, konnte es aber nicht deuten. War es Furcht?
»Bring den Dieb herein«, wies sie ruhig an, ohne aufzustehen.
Pater Febal schüttelte den Kopf.
»Das ist unmöglich.«
»Unmöglich?«, fragte Fidelma mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
»Der Dieb ist tot.«
»Das solltest du besser erklären«, forderte Fidelma ihn auf. »Und zwar genau. Hat dieser Dieb einen Namen?«
Pater Febal nickte.
»Ihr Name war Téite.«
Bruder Finnlug holte scharf Luft.
»Du kanntest sie also, Bruder Finnlug?« Fidelma wandte ihm fragend den Kopf zu.
»Wir alle kannten sie«, antwortete Pater Febal kurz.
»Wer war sie?«
»Ein junges Mädchen, das nicht weit von unserer Gemeinde entfernt im Wald lebte. Sie war Näherin. Sie nähte unsere Kleidung
und wusch sie für uns.«
»Wo wurde sie gefunden, und wie wurde sie als die Diebin erkannt?«
»Ihre Hütte steht nicht weit von der Stelle, an der wir Pater Ibor entdeckten«, erklärte der Priester. »Wie Bruder Adag mir
sagte, hatte sie Kleidungsstücke von der Gemeinde abgeholt, |475| und als sie heute Morgen nicht, wie abgesprochen, mit ihnen zurückkehrte, ging Bruder Adag zu ihrer Hütte und fand sie …«
Fidelma hob eine Hand und gebot ihm zu schweigen.
»Schicke Bruder Adag herein, damit er mir die Geschichte mit seinen eigenen Worten erzählen kann. Es gebührt sich, dass ich
diese Sache aus erster Hand höre. Du und Bruder Finnlug, ihr könnt draußen warten.«
Pater Febal wirkte unangenehm berührt.
»Ich denke, ich sollte dich besser warnen, Schwester.«
»Warnen?« Fidelma hob schnell den Kopf und starrte den Priester an.
»Bruder Adag ist von etwas einfacher Natur. In vielerlei Hinsicht ist sein Geist nicht zu dem eines Erwachsenen gereift. In
unserer Gemeinde ist es seine Aufgabe, einfache körperliche Arbeiten zu verrichten. Er … wie soll ich es erklären? … Er hat
den Geist eines Kindes.«
»Es könnte erfrischend sein, mit jemandem zu sprechen, der ein Kind geblieben ist und nicht das gekünstelte Benehmen eines
Erwachsenen entwickelt hat«, meinte Fidelma mit dünnem Lächeln. »Bring ihn her.«
Bruder Adag war ein gutaussehender junger Mann, aber offensichtlich einer, der es gewohnt war, Befehle entgegenzunehmen anstatt
selbst zu denken. Seine Augen waren rund, und in ihnen schien ein Ausdruck von ewiger Unschuld, von harmloser Naivität zu
liegen. Seine Hände waren schwielig und zeigten, dass er auch ein Mann
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