Der falsche Apostel
kommen.«
Schwester Fidelma beugte sich vor und schaute den Verwalter fragend an.
|175| »Bruder Ultan, hast du nicht gesagt, dass die Kammertür von innen verschlossen war?«
Bruder Ultan sah verärgert zu ihr hin und wandte sich wieder Abt Laisran zu. Offenbar wollte er ihre Bemerkung übergehen.
»Schwester Fidelma ist eine
dálaigh
am Gericht der Brehons, Bruder«, sagte Laisran.
Die Augen des Mönches weiteten sich, und er blickte Schwester Fidelma nun mit mehr Respekt an.
»Ja, die Tür zu Wulfstans Kammer war von innen verriegelt.«
»Und das Fenster ist vergittert?«
Ultan schien zu ahnen, worauf sie hinauswollte.
»Niemand hätte durchs Fenster hinein- oder hinausklettern können, Schwester«, erwiderte er langsam und schluckte schwer, als
er begriff, was er da sagte.
»Und doch kann niemand zur Tür hinausgegangen sein?«, drängte Schwester Fidelma erbarmungslos weiter.
Ultan schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher, dass sich Wulfstan nicht selbst etwas angetan hat?«
»Nein!«, erwiderte Ultan entschieden und bekreuzigte sich hastig.
»Wie kann aber jemand in die Kammer eingedrungen sein, Wulfstan erstochen und die Kammer wieder verlassen und die Tür von
innen verriegelt haben?«
»Gott steh uns bei, Schwester!«, rief Ultan aus. »Wer das getan hat, der kann zaubern! Der ist ein böser Geist, der durch
Mauern gehen kann.«
Abt Laisran blieb unsicher am Ende des Flures stehen, in dem Wulfstans Kammer lag. Zwei Klosterbrüder hatten dort Posten bezogen,
die allen neugierigen Mönchen und Studenten den |176| Zugang verwehrten. Obwohl Bruder Ultan versucht hatte, die Angelegenheit geheim zu halten, wurde in den Kreuzgängen bereits
von Wulfstans Tod getuschelt. Laisran drehte sich zu Schwester Fidelma um, die ihm gefolgt war und ruhig und gefasst dastand,
die Hände bescheiden in den Falten ihres Ordensgewandes verborgen.
»Bist du sicher, dass du diese Aufgabe übernehmen möchtest, Schwester?«
Schwester Fidelma rümpfte die Nase.
»Bin ich nicht Anwältin am Gericht der Brehons? Wer sonst außer mir sollte diese Untersuchung leiten, Laisran?«
»Aber die Art, wie er zu Tode kam …«
Sie verzog das Gesicht und unterbrach ihn: »Ich habe bereits viele Tote gesehen, und die wenigsten von ihnen waren friedlich
entschlafen. Für diese Aufgabe wurde ich ausgebildet.«
Laisran seufzte und bedeutete den beiden Brüdern mit einer Handbewegung, zur Seite zu treten.
»Dies ist Schwester Fidelma, eine
dálaigh
am Gericht der Brehons, die in meinem Auftrag Wulfstans Tod untersucht. Seht zu, dass ihr jede mögliche Hilfe zuteil wird.«
Laisran zögerte, zog dann beinahe ratlos die Schultern hoch, machte kehrt und entfernte sich.
Die beiden Mönche traten respektvoll zur Seite. Schwester Fidelma blieb an der Tür von Wulfstans Kammer stehen.
Die Kammer war eine von vielen, die im Erdgeschoss des Klosters von einem aus grauem Granit gemauerten Flur abgingen. Die
Tür, die nun beschädigt in den Angeln hing, war dick – beinahe zwei Zoll – und mit schweren Eisenbändern beschlagen. Im Gegensatz
zu den meisten Türen, die Fidelma kannte, hatte sie an der Außenseite keinen Eisengriff. Fidelma hielt inne und sah sich das
Holz genau an, das Spuren von Ultans Versuchen aufwies, gewaltsam in die Kammer einzudringen.
|177| Dann trat sie auf die Schwelle und ließ die Augen durch den Raum schweifen.
Hinten stand ein Bett, auf dem ein Leichnam mit ausgebreiteten Armen lag, die starren Augen zur Decke gerichtet, wie gefroren
im letzten schmerzlichen Blick, ehe der Tod eingetreten war. Er war mit einem weißen, blutbefleckten Hemd bekleidet. Diese
Verletzungen hatte sich der Mann gewiss nicht selbst beigebracht, das erkannte Fidelma sofort. Sie sah einen kleinen Holzstuhl
mit einem Kleiderhaufen. Auf einem Tischchen mit einer Öllampe lagen einige Schreibgerätschaften. Sonst war nicht viel in
diesem Raum zu finden.
Licht drang in die düstere Kammer nur durch ein kleines Fenster, das etwa zwei Meter über Bodenhöhe lag und mit einem eisernen
Gitter gesichert war, durch das man einen Arm bis zur Schulter schieben konnte, aber sicher nicht weiter. Alle vier Wände
der Kammer waren aus Steinblöcken gemauert, und der Boden war mit großen Granitplatten gefliest. Die Decke bestand aus schweren,
dunklen Eichenbalken. Obwohl es bereits auf Mittag zuging, war es im Raum zu schummrig, um weitere Einzelheiten zu erkennen.
»Bringt mir eine helle Lampe, Brüder«, rief
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