Der falsche Apostel
unvermittelt.
Mit einem Seufzer hastete Laisran hinter ihr her, als sie mit raschen Schritten davoneilte.
Auch das obere Stockwerk erwies sich als Enttäuschung. Über Wolfstans Kammer befand sich der Fußboden des Dormitoriums für
die Novizen der Ordensgemeinschaft. Sorgfältig nahm Fidelma die Dielen in Augenschein, um festzustellen, ob man vielleicht
eine hochgehoben hatte, um sich in das Zimmer darunter herabzulassen. Doch es war viele Jahre lang hier nichts angerührt worden.
Auch hätte ein solches Vorgehen die Mitwirkung aller im Dormitorium erfordert.
»Sag mir, Laisran, was liegt unter Wulfstans Kammer?«, fragte Fidelma nun.
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, Fidelma«, vertraute der Abt ihr an. »Darunter ist nichts als feste Erde. Es gibt
keinen Keller, keinen Tunnelgang. Die Steinplatten wurden unmittelbar auf dem Erdboden verlegt. Es kann also niemand in die
Kammer gelangt sein, indem er eine davon entfernte. Außerdem« – und hier lächelte er ironisch –, »was hätte wohl unser guter
Wulfstan während des Aufruhrs gemacht, den es doch verursacht hätte, wenn jemand Deckenbohlen oder Fußbodenplatten oder Gitterstäbe
am Fenster entfernt hätte?«
Schwester Fidelma lächelte zurück.
»Der Weg zur Wahrheit ist gepflastert mit dem Erwägen und |192| Verwerfen aller Möglichkeiten, ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie einem vorkommen, Laisran.«
»Die Wahrheit«, erwiderte der Abt besorgt, »ist, dass es unmöglich war, dass eine Menschenhand Wulfstan niederstreckte, während
er allein in seiner verriegelten Kammer schlief.«
»Nun,
darin
kann ich dir zustimmen.«
Abt Laisran schaute sie verdutzt an.
»Ich dachte, du hättest gesagt, dass keine Zauberei im Spiel war. Meinst du, dass er nicht von Menschenhand getötet wurde?«
»Nein«, antwortete Schwester Fidelma mit einem Grinsen. »Ich meine, dass er nicht allein in seiner Kammer war. Es ist eine
logische Folgerung: Wulfstan wurde erstochen. Wulfstan war in seiner Schlafkammer. Also war er nicht allein in seiner Schlafkammer,
als er ermordet wurde.«
»Aber …«
»Wir haben ausgeschlossen, dass unser Mörder durch das Fenster gekommen sein kann. Bist du damit einverstanden?«
Laisran runzelte die Stirn, versuchte verzweifelt, ihrer Logik zu folgen.
»Wir haben die Möglichkeit ausgeschlossen, dass unser Mörder durch die Decke in die Kammer eingedrungen sein könnte.«
»Einverstanden.«
»Wir haben festgestellt, dass es für den Mörder unmöglich gewesen ist, durch den Steinfußboden in die Kammer zu gelangen.«
Abt Laisran nickte heftig.
»Dann bleibt nur noch eine Methode, hinein und wieder hinaus zu gelangen.«
»Ich verstehe nicht …«, setzte er an.
|193| »Durch die Tür. Durch die Tür ist unser Mörder in die Kammer gekommen, und durch die Tür hat er sie auch wieder verlassen.«
»Unmöglich!« Laisran schüttelte den Kopf. »Die Tür war doch von innen verriegelt.«
»Trotzdem ist es so gewesen. Wer immer die Tat begangen hat, hoffte, uns würde diese seltsame Tatsache derart verwirren, dass
wir das Motiv aus dem Auge verlieren. Denn er wünschte sich, dass wir zunächst an das Offensichtliche denken würden: den Hass
zwischen Wulfstan und den Britanniern. Vorstellungen von Zauberei, bösen Geistern, der Gedanke, dass Wulfstan nicht von Menschenhand
getötet wurde, all das sollte unsere Meinung beeinflussen. So hätte es jedenfalls unser Mörder gern gehabt.«
»Dann weißt du, wer es war?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich habe noch nicht alle Verdächtigen befragt. Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, mit dem fränkischen Prinzen Dagobert
zu sprechen.«
Dagobert war ein junger Mann, den man aus dem Land der Franken nach Durrow gebracht hatte, als er noch ein Kind war. Es wurde
behauptet, er sei der Erbe des fränkischen Reiches, dass aber sein Vater abgesetzt worden wäre und der junge Prinz ins Exil
nach Irland geschafft wurde, bis die Zeit für seine Rückkehr reif sei. Er war groß und dunkel und sah recht gut aus. Er sprach
Irisch beinahe so fließend wie ein irischer Prinz. Laisran hatte Schwester Fidelma warnend mitgeteilt, der Prinz hätte gute
Verbindungen und sei mit einer Prinzessin vom Königshof von Cashel verlobt. Es würde nicht ohne Folgen bleiben, wenn Dagobert
nicht bis zum Letzten getreu dem Gesetz der Brehons behandelt würde.
»Du weißt, warum du hier bist?«, begann Schwester Fidelma.
|194| »Das weiß ich«, erwiderte der
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