Der falsche Apostel
Fidelma.
»Ob ich ihn kenne?« Lorcán klang ungehalten. »Natürlich. Das ist Abt Selbach!«
»Abt Selbach?«
Fidelma blieb der Mund offen stehen. Noch einmal betrachtete sie den Leichnam des Abts. Dann schaute sie sich in der menschenleeren
Landschaft um. »Hast du nicht gesagt, Selbach hatte zwölf Brüder in seiner Gemeinde?«
Lorcán war sich nicht ganz sicher, was sie suchte. »Ja, das schon. Aber die Insel scheint verlassen«, murmelte er mehr zu
sich selbst. »Hier waltet ein schreckliches Geheimnis.«
»Dem müssen wir auf den Grund gehen«, erwiderte Fidelma zuversichtlich.
»Eher müssen wir zurück aufs Festland«, begehrte Lorcán auf. »Zurück nach Dún na Séad und den Ó hEidersceoil von den Geschehnissen
in Kenntnis setzen.« Der Stammesfürst des Gebiets musste seiner Meinung nach sofort unterrichtet werden.
Fidelma hob die Hand und gebot ihm Einhalt, denn er wollte schon zur Steinhütte, in der sie Bruder Spelán gelassen hatten.
»Warte, Lorcán. Ich bin eine
dálaigh
, Anwältin nach den Gesetzen des
Fenechus
, und habe den Grad eines
anruth.
Es ist meine Aufgabe, hier zu bleiben und herauszufinden, wie Abt Selbach und Sacán zu Tode gekommen sind und warum Bruder |225| Spelán verletzt wurde. Außerdem müssen wir erkunden, wohin der Rest der Bruderschaft verschwunden ist.«
Lorcán starrte die entschlossene Klosterschwester bestürzt an. »Leicht könnte uns dasselbe Unheil treffen«, wehrte er sich.
»Was für ein unheimliches Mysterium ist hier am Wirken? Eine Bruderschaft verschwindet, ihr Abt wird wie ein gewöhnlicher
Verbrecher an einen Baum gefesselt und umgebracht, ein junger Bursche getötet, der
dominus
überfallen und bewusstlos geschlagen!«
»Ein Mysterium von Menschenhand, wenn du schon von einem Mysterium reden willst«, erwiderte Fidelma gereizt. »Als Anwältin
an den Gerichten der fünf Königreiche Irlands fordere ich dich auf, mir Beistand zu leisten. Mir geben die Gesetze des
Fenechus
das Recht dazu und die Vollmacht, die mir der Oberste Richter erteilt hat. Ich denke, du wirst mir das Recht nicht streitig
machen wollen?«
Sprachlos schaute Lorcán die Nonne an und schüttelte dann langsam den Kopf. »Zweifelsohne ist es dein Recht, Schwester. Doch
bedenke, Abt Selbach ist noch nicht lange tot. Was, wenn seine Mörder hier irgendwo in einem Versteck uns auflauern?«
Fidelma überhörte die Frage, nicht aber seine Feststellung bezüglich des Leichnams. »Wie kommst du darauf, dass er noch nicht
lange tot ist?«
Ungeduldig zuckte der Seemann mit den Achseln. »Der Körper ist erkaltet, aber nicht steif. Auch haben sich die Leichenfledderer
noch nicht über ihn hergemacht.« Er wedelte mit den Händen und wies auf die über ihnen kreisenden Vögel.
Im Schwarm der Seevögel machte Fidelma Mantelmöwen mit schwarzen Rücken und riesigen Schwingen aus, die gierigsten Aasfresser
weit und breit. Auch Aaskrähen mit metallisch glänzendem schwarzem Gefieder hatten sich eingefunden. Es war die Jahreszeit,
in der diese rau krächzenden Räuber ihre |226| Gelege auf den Klippenspitzen ausbrüteten und in der die Jungvögel von ihren Eltern gefüttert wurden. Sie nährten sich von
den Eiern anderer Vögel, von kleinen Säugetieren, aber auch von verwesenden Kadavern. Fidelma konnte sich gut vorstellen,
wie die ruhelos kreisenden Möwen und Krähen sich über kurz oder lang auf die Leiche stürzen würden. Noch deutete nichts darauf
hin, dass sie ihr Werk begonnen hatten.
»Du bist ein scharfsinniger Beobachter, Lorcán. Vermutlich wird auch Bruder Spelán noch nicht lange bewusstlos sein. Fallen
dir weitere Besonderheiten an der Leiche des Abts auf?«
Der Bootsmann zog die Brauen zusammen, schaute genau hin und schüttelte den Kopf. »Man hat Selbach ausgepeitscht und dreimal
in den Rücken gestochen. Wahrscheinlich mit einem Messer. Der Stoß ging zwischen den Rippen schräg nach oben. Der Abt muss
sofort tot gewesen sein. Ein seltsames Ritual, erst straft man den Mann derart ab, und dann ermordet man ihn. Ich verstehe
das nicht.«
»Präg dir alle Einzelheiten genau ein«, forderte ihn Fidelma auf. »Ich benötige dich vielleicht später als Zeugen. Wir sollten
den Leichnam abnehmen und ins Bethaus schaffen, damit die Vögel nicht herankönnen.«
Lorcán ergriff sein scharfes Seemannsmesser, durchtrennte die Riemen und zerrte die Leiche ins Bethaus, wie Fidelma vorgeschlagen
hatte.
Dann nahm sie sich die Zeit, den Leichnam
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