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Der falsche Apostel

Der falsche Apostel

Titel: Der falsche Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Tremayne
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des Jungen genauer zu untersuchen.
    »Er muss eine ganze Weile im Meer getrieben haben. Sehr lange freilich nicht, ein paar Stunden vielleicht«, stellte sie fest.
     »Ich sehe keine Verletzungen, die zum Tod geführt haben könnten, keine Stichwunden, auch keine Einwirkung stumpfer Gewalt.«
     Sie drehte den Jungen herum und hätte fast aufgeschrien.
    »Aber gegeißelt hat man ihn. Sieh dir das an, Lorcán!«
    |227| Die Kutte war aufgerissen, der Rücken darunter voller alter Narben und neuer Schwielen, die von Peitschenhieben herrührten.
    »Die Familie des Jungen auf Inis Beag kenne ich gut«, flüsterte er. »Der Junge war so fröhlich, folgsam und fleißig. Sein
     Körper war makellos, als ich ihn herbrachte.«
    Fidelma tastete die feuchte Kleidung ab, das Salzwasser trocknete bereits und hinterließ weiße Ränder und Flecken. Als sie
     mit den Fingern über die Gebetsschnur fuhr, die das Habit zusammenhielt, stutzte sie. Ein kleiner Metallhaken war an dem Gürtel
     befestigt, an dem eine Lederscheide mit einem kurzen Messer hing, wie es alle Brüder in ländlichen Klostergemeinden bei sich
     trugen. Sie gebrauchten es beim Essen und als Werkzeug bei ihren täglichen Verrichtungen. An dem Haken war ein Fetzen Wollstoff
     hängengeblieben. Vorsichtig nahm sie ihn ab und hielt ihn hoch.
    »Was ist das, Schwester?«, fragte Lorcán.
    »Weiß ich nicht. Der Fetzen hat sich am Haken verfangen.«
    Sie verglich ihn mit dem Stoff, aus dem die Kutte des Jungen gemacht war. »Von hier stammt er nicht«, und damit steckte sie
     ihn in ihr
marsupium
. Traurig und voller Mitleid schaute sie noch einmal auf den jungen Toten und bedeckte ihn. »Komm, sehen wir, was es sonst
     noch zu entdecken gibt.«
    »Was soll es hier noch geben? Wir können ohnehin nichts weiter tun. Ein Sturm naht, und wenn der uns erwischt, müssen wir
     hierbleiben, bis alles vorüber ist.«
    »Dass ein Sturm aufzieht, weiß ich«, erwiderte sie ungerührt. »Aber in einer Sache müssen wir noch Klarheit gewinnen. Von
     den zwölf Brüdern, die du außer Selbach erwähnt hast, haben wir bisher nur zwei gesehen, Spelán und Sacán. Wir müssen die
     Insel absuchen und herausbekommen, ob sie sich irgendwo vor uns verbergen.«
    |228| Lorcán kaute nervös an den Lippen. »Und wenn es Piraten waren, die das hier angerichtet haben? Es gehen Geschichten um über
     angelsächsische Räuber, die mit ihren Langbooten herüberkommen und Dörfer an der Küste überfallen und ausplündern.«
    »Möglich wäre das schon«, stimmte ihm Fidelma zu. »Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht.«
    »Wieso nicht?«, fragte Lorcán aufgebracht. »Seit Jahren unternehmen die Angelsachsen Raubzüge entlang der Küsten von Gallien,
     Britannien und Irland, plündern und morden …«
    »Du siehst das ganz richtig«, erwiderte Fidelma und wies auf die verlassenen, aber unversehrten Steinhütten. »Sie plündern
     und brandschatzen, treiben das Vieh weg und verschleppen die Bewohner in die Sklaverei.«
    Lorcán begriff schnell, worauf sie hinauswollte. Nirgendwo war etwas zerstört, so weit das Auge reichte, keinerlei Anzeichen
     mutwilliger Verwüstung. Auf dem Hang hinter dem Bethaus rupften drei oder vier Ziegen am Heidekraut, und eine fette Sau grunzte
     wohlig inmitten ihrer Ferkel. Auch fiel ihm das Silberkruzifix am Hals des toten Abts ein. Geraubt worden war nichts. Es war
     offensichtlich, Piraten hatten hier nicht gewütet und eine wehrlose Gemeinschaft überfallen. Und das gab ihm weitere Rätsel
     auf.
    »Komm mit, Lorcán, wir schauen mal in die Zellen der Brüder«, schlug ihm Fidelma vor.
    In den Türsturz der nächsten Hütte waren Worte geschnitzt.
    Ora et labora
. Bete und arbeite. Eine lobenswerte Ermahnung, dachte Fidelma und blieb darunter stehen. Die Zelle war bis auf wenige schlichte
     Gegenstände fast kahl. Den Fußboden aus gestampftem Lehm bedeckte Schilfrohr, es gab zwei hölzerne Bettgestelle, einen Wandschrank
     und an Haken hingen
tiag leabhair
, Büchertaschen aus Leder, in denen kleine Evangelienhandschriften |229| steckten. Die Wand schmückte ein kunstvoll geschnitztes Holzkreuz, und an einer anderen lasen sie:
    Animi indices sunt oculi.
    Den Geist offenbaren die Augen.
    Fidelma hielt das für einen merkwürdigen Wahlspruch, um eine christliche Gemeinschaft zum Glauben zu ermahnen. Dann fiel ihr
     neben einer Bettstatt ein Stück Pergament auf. Darauf stand ein Vers aus den Psalmen. »Zerbrich den Arm des Gottlosen und
     suche das Böse, so wird

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