Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der falsche Apostel

Der falsche Apostel

Titel: Der falsche Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Tremayne
Vom Netzwerk:
der Inselmitte. Dort wuchsen ein paar
     verkrüppelte Bäume, und zwischen riesigen Felsbrocken hatte man etliche Steinhütten aufgeschichtet, die wie Bienenkörbe aussahen,
     auch ein kleines Bethaus.
    »Das also ist Abt Selbachs Gemeinde«, wunderte sich Fidelma, runzelte die Stirn und schaute sich um. Nichts regte sich, von
     Leben keine Spur. »Hallo, ist da wer?«, rief sie laut.
    Die einzige Antwort, die sie erhielt, war der verärgerte Chor aufgestörter Seevögel. Alke erhoben sich von ihren Nistplätzen,
     ihr Gefieder schwarz und weiß oder dunkelbraun, die Schnäbel leuchtend gefärbt und zwischen den Zehen Schwimmhäute. Schwarze
     Lummen, Möwen und Sturmschwalben folgten ihnen und flatterten als schimpfender Schwarm umher.
    Fidelma war verunsichert. Irgendwer musste sie doch gehört haben, aber keine menschliche Stimme erwiderte ihren Ruf. Langsam
     ging sie den mit Gras überwachsenen Pfad zur Senke hinunter, in der die Steinhütten standen. Sárnat trottete neben ihr her.
    Vor den Bauten blieb Fidelma stehen und rief noch einmal, und wieder erhielt sie keine Antwort.
    Sie gingen um eines der Häuser und befanden sich auf einem viereckigen Platz. Schwester Sárnat schrie auf.
    In der Mitte des Vierecks stand ein verkümmerter Baum, |220| etwa zwölf Fuß hoch, gebeugt und verkrüppelt von den kalten Atlantikwinden. An den dünnen Stamm war ein Mensch gefesselt,
     um die Handgelenke geschlungene und um einen Ast gebundene Lederriemen ließen ihn nicht zu Boden sinken. Obwohl der Mann mit
     dem Gesicht zum Baumstamm hing, war sofort zu erkennen, er war tot.
    Vor Angst und Schrecken zitternd, stand Schwester Sárnat neben Fidelma. Die aber kümmerte sich jetzt nicht um das Mädchen,
     sie machte ein paar Schritte auf den Leichnam zu und betrachtete ihn eingehend. Die blutbefleckten Gewänder waren eindeutig
     das Habit eines Geistlichen. Der Kopf war vorn kahlgeschoren bis zu einer Linie von einem Ohr zum anderen, das Haar am Hinterkopf
     lang. Das war die Tonsur der irischen Kirche, die
airbacc giunnae
, ein Brauch, der von den Druiden stammte. Der Tote war etwa sechzig Jahre alt, ein schmächtiger Mann mit kantigen Zügen,
     fahler Haut und zusammengepressten Lippen. Um den Hals hing an einem Lederband ein Kruzifix von einigem Wert, ein sorgsam
     gearbeitetes Silberkreuz. Die streifenartig zerschlissene Rückseite des Habits war voller Blut, darunter zerfetztes Fleisch.
     Der Rücken wies mehrere kleine Stichwunden auf, und an den vielen aufgeplatzten Striemen war zu erkennen, dass man den Mann
     mit einer Geißel ausgepeitscht hatte, bevor er starb.
    An den Baum war ein Stück Holz genagelt. Darauf war auf Griechisch geschrieben: »Der Gottlose ist wie ein Wetter, das vorübergehet,
     und nicht mehr ist …« Die Worte kamen Fidelma vertraut vor, und ihr fiel ein, sie waren aus den »Sprüchen Salomos«. Ganz offensichtlich
     hatte man das Opfer geschlagen und getötet, während es an den Baum gebunden war.
    Das Wehklagen ihrer Begleiterin lenkte sie ab. Sie fuhr herum, mühte sich aber, ihren Unmut zu zügeln. »Sárnat, geh zurück
     zum Rand der Klippe und hole Lorcán her.« Das Mädchen |221| zögerte, doch sie befahl: »Nun geh schon, beeil dich!« Sárnat drehte sich um und huschte davon.
    Fidelma trat näher an den hängenden Leichnam heran im Bestreben, weitere Aufschlüsse zu entdecken. Aber mehr als die Tatsache,
     dass der Mann schon älter und, so viel sich von dem kunstvollen Kruzifix herleiten ließ, ein Geistlicher von Rang war, konnte
     sie nicht ergründen. Sie ging hinüber zu dem kleinen aus Trockenmauern errichteten Bethaus, das höchstens einem halben Dutzend
     Andächtiger Platz bot. Es bildete den Mittelpunkt der sechs steinernen Zellen, die wohl die Unterkünfte der Gemeinde waren.
    Bei einem ersten Hineinschauen in den düsteren Bau glaubte sie ein Bündel Lumpen auf dem kleinen Altar zu erkennen. Doch sobald
     sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, begriff sie, dass dort der Leichnam eines jungen Mönchs lag. Es war
     ein Junge, der noch nicht zum Mann herangewachsen war. Seine Kutte war nass, das glatte braune Haar an den Schläfen angetrocknet.
     Die Gesichtszüge hatten nichts von der Gelöstheit im Tode an sich, sondern waren verkrampft, als ob der Junge unter großen
     Schmerzen gestorben war. Als sie ihn sich näher ansehen wollte, stolperte sie über etwas anderes Weiches.
    Ein weiterer Geistlicher lag mit dem Gesicht nach unten und mit ausgebreiteten

Weitere Kostenlose Bücher