Der falsche Apostel
nach Wasser.
Hinter ihr bestätigte Lorcán sachlich: »Stimmt, die Flut, die vom Festland anrollt, konnte die Leiche vor sich her und dann
auf den Kieselstrand schieben.«
»Ich schlief und wurde durch den Lärm wach. Als ich aus meiner Zelle trat, hatte sich die Wut der Brüder bereits entladen.
Sie hatten Selbach gepackt und an den Baum gebunden. Einer der Brüder peitschte ihn mit seiner eigenen Geißel, so dass sie
tief ins Fleisch schnitt …«
Der
dominus
hielt inne, wie um Atem zu schöpfen.
»Hast du versucht, ihnen Einhalt zu gebieten?«, fragte Fidelma.
»Natürlich habe ich das versucht«, entgegnete Spelán aufgebracht. »Ich habe gebrüllt und ihnen Vorhaltungen gemacht, wie auch
Snagaide, ein anderer junger Bruder, sie könnten nicht das Gesetz in die eigene Hand nehmen, um Selbach zu bestrafen. Sie
müssten mit ihren Anschuldigungen nach Dún na Séad gehen und den Fall vor den Richter der Ó hEidersceoil bringen. Doch die
jungen Burschen waren so wütend, dass sie nicht auf uns hörten. Sie packten Snagaide und mich und hielten uns fest. Was wir
sagten, war ihnen egal, sie prügelten weiter auf Selbach |240| ein und waren wie von allen guten Geistern verlassen. Ehe ich mich versah, hatte schon jemand sein Messer Selbach in den Rücken
gejagt. Wer es war, konnte ich nicht sehen.
Ich schrie ihnen zu, ihr habt nicht nur ein Verbrechen begangen, sondern obendrein einen Kirchenfrevel. Ich beschwor sie,
sich mir und Bruder Snagaide zu ergeben, und versprach, sie nach Dún na Séad zu begleiten, wo sie sich vor Gericht verantworten
müssten, doch ich würde sie verteidigen.«
Spelán befühlte die Wunde an seiner Schläfe und verzog das Gesicht vor Schmerz.
»Sie stritten untereinander, doch dann schwang sich Bruder Forgach zum Wortführer auf. Er sagte, sie dürften nicht dafür bestraft
werden, was in den Augen Gottes richtig und gerecht sei. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es sei Selbach recht geschehen, dass
er gestorben sei als Vergeltung für den Tod von Bruder Sacán. Er verlangte von mir, ich solle einen Eid schwören, niemandem
etwas von den Vorgängen auf der Insel zu verraten und die Todesfälle als reine Unfälle zu erklären. Wenn ich das nicht täte,
würden sie das Boot nehmen und sich einen Ort suchen, an dem sie in Frieden und Freiheit leben könnten. Mich und Snagaide
würden sie auf der Insel zurücklassen, bis Lorcán oder ein anderer Bootführer vom Festland herüberkäme.«
»Und was ist dann geschehen?«, drängte Fidelma den
dominus
zum Weiterreden.
»Dann? Wie du dir denken kannst, so einen Eid konnte ich nicht leisten. Ich versuchte, sie zur Vernunft zu bringen, doch ihre
Wut kochte wieder hoch, vielleicht mehr aus Furcht vor den Folgen ihres Tuns als aus Empörung. Dann hat mir einer von ihnen
einen Schlag auf den Kopf versetzt. Ich kam erst wieder zu mir, als die junge Schwester und der Seemann sich über mich beugten.«
Fidelma schwieg eine Weile.
|241| »Sag mir noch, was ist aus deinem Mitstreiter, dem Bruder Snagaide, geworden?«
Spelán runzelte die Stirn und schaute von einem zum anderen, als hoffte er, den Bruder irgendwo in der Zelle zu finden.
»Snagaide? Ich weiß es nicht. Da war so viel Lärm und Geschrei. Dann wurde mir schwarz vor Augen, und ich spürte nichts mehr.«
»War Bruder Snagaide auch einer von den jungen?«
»Außer mir und Selbach waren alle anderen Brüder noch Jünglinge.«
»War er blond?«
Zu ihrer Verwunderung schüttelte Spelán den Kopf. Demnach war der Tote am Strand ein anderer Mönch, nicht Snagaide.
»Nein«, bekräftigte der Verwalter der Bruderschaft, »er hatte schwarzes Haar.«
»Eins beschäftigt mich immer noch, Spelán. Diese Insel ist klein, und eure Gemeinschaft war klein. Zwei Jahre lang habt ihr
dicht nebeneinander gelebt. Und doch sagst du, du hättest nie etwas von den sadistischen Neigungen des Abts gemerkt. Jede
Nacht hat er einen Jungen aus eurer Gemeinde ans andere Ende der Insel gebracht und ihn dort gequält und ausgepeitscht. Und
du hast wirklich nichts davon erfahren? Das finde ich sehr seltsam.«
Spelán hob die Schultern. »Seltsam ist das schon, Schwester, und doch ist es die Wahrheit. Unsere Gemeinschaft bestand aus
ganz jungen Leuten. Selbach hatte sie alle in der Hand. Sie glaubten ihm, dass Schmerz erleiden sie dem ewigen Heil näher
bringt. Da sie auf das heilige Kreuz schworen, nie über die Kasteiungen zu sprechen, die der Abt an ihnen vollzog,
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