Der falsche Apostel
der Mann eine Pause machte.
»Mit dem Segen Ultans von Armagh und der Erlaubnis des Stammesfürsten, des Ó hEidersceoil, ließen wir uns auf dieser abgeschiedenen
Insel nieder.«
|237| Wieder unterbrach er sich und trank Wasser.
»Und wie war das mit dem Bösen, das unter euch um sich griff?«
»Dazu komme ich gleich. Manche Asketen des Glaubens sind der Meinung, dass körperlicher Schmerz, wie ihn selbst der Sohn des
Lebendigen Gottes erleiden musste, dass Schmerz, wie ihn die Kasteiung des Fleisches verursacht, der Weg zur Erlösung des
Menschen ist, ein Weg zu seiner Errettung. Abtötung des Fleisches und Pein werden als Pfade betrachtet, die zum Seelenheil
führen.«
»Derart irregeleitete Narren soll es auch unter uns geben«, äußerte sich Fidelma abfällig.
»Keine Narren, Schwester, Narren sind das nicht«, begehrte er auf. »Viele unserer Heiligen waren zutiefst von der Wirksamkeit
der Kasteiung überzeugt. Sie glaubten allen Ernstes, dass sie die Leiden Christi nachempfinden müssten, wollten sie ins ewige
Paradies gelangen. Noch heute gibt es viele, die sich Dornenkronen aufs Haupt drücken, die sich geißeln, Nägel durch die Hände
treiben oder ihre Körperseiten aufschlitzen, auf dass sie der Leiden Christi teilhaftig werden. Nein, du urteilst da zu streng,
Schwester. Das sind keine Narren, eher Visionäre, vielleicht fehlgeleitet in der Wahl ihrer Mittel.«
»Also gut. Wir wollen der Sache jetzt nicht weiter nachgehen, Spelán. Was hat das aber mit dem zu tun, das sich hier zugetragen
hat?«
»Versteh mich nicht falsch, Schwester«, erwiderte er zerknirscht. »Ich bin kein Anwalt der
gortaigid
, derjenigen, die sich selber Schmerz zufügen. Ich verurteile sie genauso wie du. Aber ich verstehe ihr Verlangen, Schmerz
zu ertragen, als ein aufrichtiges Verlangen, die Leiden des Messias nachzuempfinden, mit denen er die Menschheit erlöst hat.
Narren möchte ich sie deshalb nicht nennen. Lass mich jedoch fortfahren. Anfangs |238| waren wir eine glückliche Gemeinschaft. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass einer unter uns meinte, Schmerz sei der
rechte Weg zum Seelenheil.«
»Es gab also einen
gortaigid
unter euch?«
Der
dominus
bestätigte das nickend. »Ich lasse mal die Einzelheiten beiseite, sondern sage geradeheraus, dass es niemand anderer war als
der ehrwürdige Abt Selbach. Nur war er nicht einer von denen, die einfach sich selber peinigen und demütigen. Er überzeugte
die jugendlichen Brüder, die wir um uns versammelt hatten, sich der Geißel und der Peitsche zu unterwerfen, um seine Begierde
zu befriedigen, anderen Schmerz und Qual zuzufügen, damit diejenigen, wie er ihnen einredete, der großen Leiden Christi teilhaftig
werden könnten. In aller Heimlichkeit vollzog er diese Scheußlichkeiten und beschwor seine Opfer, darüber strengstes Stillschweigen
zu bewahren, sonst sei ihre unsterbliche Seele unrettbar verloren.«
Fidelma hörte ihm mit leichtem Grauen zu und fragte: »Und wann ist das ans Tageslicht gekommen?«
Er biss sich einen Moment auf die Unterlippe. »Wann genau? Erst heute Morgen. Ich habe nichts davon gewusst. Das schwöre ich.
Heute in der Frühe wurde der Leichnam unseres jüngsten Novizen, Sacán, entdeckt. Er war erst vierzehn Jahre alt. Die Brüder
hatten ihn gefunden, und es stellte sich heraus, Selbach hatte ihn an eine abgelegene Stelle am äußersten Ende der Insel geführt
und gestern Nacht die rituelle Auspeitschung an dem Jungen vorgenommen. Dabei hatte er mit der Geißel so heftig zugeschlagen,
dass der Junge vor Schmerz und Schock auf der Stelle starb.«
Fidelmas Miene wurde eisig. »Wie ist es möglich, dass du als der
dominus
dieser Gemeinde erst heute früh gewahr wurdest, was der Abt hier trieb?«
»Selbach war sehr verschlagen«, erwiderte Spelán ohne Zögern. |239| »Jedes Mal mussten die jungen Brüder schwören, niemandem etwas von den rituellen Kasteiungen zu verraten. Jedes Mal ging er
dazu mit einem der Brüder ans andere Ende der Insel. Ein Leichentuch des Schweigens lag über der Gemeinschaft. Nur ich lebte
in völliger Ahnungslosigkeit.«
»Weiter, bitte!«
»Selbach hatte versucht, seine Schandtat zu vertuschen, indem er den Leichnam des armen Jungen vergangene Nacht über die Klippen
warf, doch die Flut hat ihn ans Land geschwemmt. Und das gerade an einer Stelle, an der zwei der Brüder auf Fischfang gehen
wollten für unser täglich Brot.«
Er schwieg und verlangte wieder
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