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Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Titel: Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Merten
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Hilfe der schwächlichen Menschen angewiesen sind.“
    Die letzten Worte der Eiche erinnerten Kwin an den Grund, weshalb er hierhergekommen war. „Und doch brauche auch ich deine Hilfe“, erklärte er. „Ich bin der Schüler von Borken und von Rodgatt von Lohe, Tischler des wahren Handwerks, Baumfreund und Baumbehüter werde ich genannt. Ich bin gekommen, um ein Geschenk von dir zu erbitten.“
    „Ein Geschenk will ich dir gern machen. Doch welcher Art soll es sein, Tischler?“
    „Das weiß ich nicht“, erklärte Kwin schlicht.
    „Dann“, sprach die Eiche bedächtig, „dann bist du nicht würdig, ein Geschenk zu erhalten. Geh, Tischler, und kehre nicht zurück, bevor du weißt, was du willst.“
    „Warte!“, rief Kwin, „ich möchte ...“
    „Nichts möchtest du mehr!“, entgegnete der Baum. „Nicht von mir und auch von keinem anderen meiner Geschwister. Dir wird erlaubt, im Nachtwald zu verweilen. Lerne von denen, die dich zu lehren gewillt sind. Oder stelle dich sogleich der Prüfung des Auserwählten und du darfst zurückkehren. Wenn du bestehst.“
    Kwin war allein. Er löste die Hände von der Rinde und betrachtete sie ungläubig. Not und Verderben, war denn alles, was er je gelernt hatte, plötzlich gegenstandslos geworden? Mit einer Eiche hatte es im Spahnwald begonnen und mit dieser Eiche schloss sich ein Kreis, aus dem es für ihn scheinbar kein Entrinnen gab. Lerne von denen, die ewig leben, hatte die Eiche ihm geraten. Kwin sah sich um. Die Bäume standen hier dicht beieinander und nur wenig Licht fand seinen Weg durch die dichtbelaubten Äste bis zum Waldboden. Er trat ein paar Schritte zur Seite und stand vor einer anderen Eiche. Er legte seine rechte Hand an die Rinde und rief. Er erhielt keine Antwort. Der nächste Baum, eine Buche, schwieg ebenso beharrlich. Entmutigt setzte er sich auf den Waldboden und kraulte Twists Nacken.
    Als Kwin vor nahezu einem Jahr den Spahnwald verlassen hatte, trug er in seinem Herzen das für ihn größte Geschenk, das er jemals erhalten hatte: die Fähigkeit, mit den Bäumen zu sprechen. Sein langer Aufenthalt war eine Zeit der Entbehrung und des Lernens gewesen.
    Er sah sich prüfend um. Es gibt einen Weg, dachte er. Es gibt immer einen Weg. Wer hatte das gesagt? Oma Elders oder Meister Borken? Kwin wusste es nicht mehr, doch was im Spahnwald möglich gewesen war, musste sich auch hier bewerkstelligen lassen, irgendwie. Mit frischem Mut stand er auf und sah sich um. Zuerst galt es, einen geeigneten Schlafplatz zu finden.
    Kwin lebte sich im Nachtwald ein. Nachdem er einen geeigneten Lagerplatz zu Füßen einer Esche gefunden hatte, streifte er durch den Wald auf der Suche nach einer Antwort. Doch wie zuvor waren die Bäume nicht bereit, auf seine Fragen zu antworten, und sie sprachen auch dann nicht, als er keine Fragen mehr stellte, missachteten seine freundlichen Worte und seine Fragen nach ihrem Wohlbefinden. Selbst seine freundlichen Grüße blieben ohne Erwiderung. Das brachte Kwin zur Verzweiflung. Wenn er nicht mit ihnen sprechen konnte, wie sollte er dann von ihnen lernen?
    Gleich nach dem Aufstehen machte er sich auf die Suche nach etwas Essbarem für sich und Twist. Der Nachtwald war nicht freigiebig mit seinen Schätzen und es dauerte viele Stunden, bevor Kwin eine ausreichende Menge Nahrung gesammelt hatte, die ihn sicher über den Tag brachte. Er ernährte sich von Waldfrüchten, von Beeren, Nüssen, Pilzen und Wurzeln und da er ein aufrechter Tischler war, fragte er die betreffenden Pflanzen, bevor er von ihnen nahm. Zwar bekam er keine Antwort, aber er erachtete ihr Schweigen in diesem Fall als stille Zustimmung. Mit den Tagen, die ungenutzt verstrichen, erreichte Kwin seine alte Fertigkeit, was das Leben im Freien betraf, aber er war nicht zufrieden. Der Wald erschien ihm fremder jetzt, ja an manchen Tagen sogar feindselig. Und er wusste nicht, womit er diese Ablehnung verdient hatte.
    Kwin unternahm lange Wanderungen, die ihn kreuz und quer durch den Nachtwald führten. Er fand eine kleine, mit Gras bewachsene Lichtung, zu der es ihn immer wieder hinzog. Dort saß er dann und dachte nach und immer wieder wälzte er den Hinweis der Eiche, von denen, die ewig Leben, zu lernen, vergeblich von einer Seite zur anderen.
    Kwin erachtete ein ewiges Leben als Baum nicht als erstrebenswert. Die Vorstellung, unaufhörlich am gleichen Ort stehen zu müssen, und allen Gefahren durch Beharrlichkeit und Standhaftigkeit zu trotzen, ließ ihn schaudern.

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